Das Rad der Zeit 6. Das Original: Herr des Chaos (German Edition)
als Nynaeve aus, weil sie gedämpft gewesen war? Siuan war stets eine Herrin der Pflichten mit lederartigem Gesicht gewesen, und auch mit lederartigem Herzen und nicht so hübsch wie jetzt mit ihren zart angehauchten Wangen und einem fast schön geschwungenen Mund.
Egwene beobachtete Siuan, während Sheriam sprach. Diese blauen Augen waren doch noch die gleichen. Wie konnte sie diesen Blick gesehen haben, der Nägel eintreiben konnte, und es nicht gewusst haben? Nun, der Gesichtsausdruck war Antwort genug. Siuan hatte sich stets um die Macht bemüht. Wenn ein Mädchen die Macht auszuprobieren begann, musste geprüft werden, wie stark sie sein würde, aber sie hatte diese Stärke nicht ein einziges Mal erreicht. Egwene wusste jetzt genug, um eine andere Frau innerhalb von Momenten einzuschätzen. Sheriam war, außer Egwene selbst, eindeutig die stärkste Frau im Raum. Myrelle kam als Nächste, obwohl man dessen kaum sicher sein konnte. Alle anderen schienen, außer Siuan, nahe beieinanderzuliegen. Siuan war bei Weitem die Schwächste.
»Dies ist wahrhaftig Nynaeves bemerkenswerteste Entdeckung«, sagte Myrelle. »Die Gelben benutzen, was sie benutzt hat, und gestalten ihre eigenen Wunder, aber sie hat damit begonnen. Setzt Euch, Kind. Die Geschichte ist zu lang, um sie sich im Stehen anzuhören.«
»Danke, aber ich möchte lieber stehen bleiben.« Egwene betrachtete den Stuhl mit der hohen Rückenlehne und dem Holzsitz, auf den Myrelle gedeutet hatte, und konnte nur mit Mühe ein Schaudern unterdrücken. »Was ist mit Elayne? Geht es ihr gut? Ich möchte alles über sie und Nynaeve hören.« Nynaeves bemerkenswerteste Entdeckung? Das besagte, dass sie mehr als eine gemacht hatte. Es schien, dass sie bei den Weisen Frauen in Rückstand geraten war. Sie würde hart daran arbeiten müssen, es aufzuholen. Zumindest glaubte sie jetzt, dass es ihr gestattet würde. Sie hätten sie kaum so herzlich begrüßt, wenn sie sie in Ungnade fortschicken wollten. Sie hatte keinen Hofknicks vollführt oder eine der Frauen auch nur einmal Aes Sedai genannt – eher weil sie keine Gelegenheit dazu bekam, als aus einem anderen Grund; man sollte Aes Sedai nicht mit Trotz begegnen –, und doch hatte niemand sie gerügt. Vielleicht wussten sie es doch noch nicht. Aber warum hatten sie sie dann gerufen?
»Es geht ihr, bis auf kleinere Reibereien, die sie und Nynaeve im Moment mit Töpfen haben, ausreichend gut«, begann Sheriam, aber Siuan unterbrach sie grob.
»Warum plappert Ihr alle daher wie geistlose Kinder? Es ist zu spät, sich zu fürchten weiterzumachen. Es hat begonnen. Ihr habt es begonnen. Entweder Ihr beendet es, oder Romanda wird Euch neben diesem Mädchen zum Trocknen in die Sonne hängen, und Delana und Faiselle und der restliche Saal werden dort sein, um Euch zu strecken.«
Sheriam und Myrelle wandten sich fast gleichzeitig zu ihr um. Alle Aes Sedai taten dies, wobei sich Morvrin und Carlinya auf ihren Stühlen umwandten. Kalte Aes-Sedai-Augen blickten aus kalten Aes-Sedai-Gesichtern.
Zuerst begegnete Siuan den Blicken herausfordernd, genauso sehr Aes Sedai wie sie, wenn auch scheinbar viel jünger. Dann sank ihr Mut ein wenig, und rote Flecke erschienen auf ihren Wangen. Sie erhob sich mit gesenkten Augen. »Ich habe übereilt gesprochen«, sagte sie leise. Die Blicke veränderten sich nicht – vielleicht bemerkten die Aes Sedai es nicht, aber Egwene sah es –, und doch sah dies Siuan nicht ähnlich.
Egwene erkannte aber auch, dass sie nicht wusste, was hier überhaupt vor sich ging. Siuan war nicht lammfromm, das am wenigsten. Was hatten sie begonnen? Warum würde sie zum Trocknen aufgehängt, wenn sie innehielten?
Die Aes Sedai wechselten so unlesbare Blicke, wie es Aes Sedai nur möglich war. Morvrin nickte als Erste.
»Ihr seid aus einem sehr speziellen Grund hierhergerufen worden, Egwene«, sagte Sheriam ernst.
Egwenes Herz schlug schneller. Sie wussten nichts über sie. Sie wussten es nicht. Aber worum ging es dann?
»Ihr«, sagte Sheriam, »werdet der nächste Amyrlin-Sitz.«
KAPITEL 35
Der Saal entscheidet
E gwene starrte Sheriam an und fragte sich, ob sie lachen sollte. Vielleicht hatte sie während ihrer Zeit mit den Aiel vergessen, was bei den Aes Sedai als Humor galt. Sheriam sah sie mit diesem zeitlosen, gelassenen Gesicht an, und die schräg stehenden grünen Augen blinzelten nicht einmal. Egwene schaute zu den anderen. Sieben ausdruckslose, abwartende Gesichter. Siuan lächelte vielleicht
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