Das Rad der Zeit 6. Das Original: Herr des Chaos (German Edition)
Faile gegangen war, und obwohl sie beim Lesen die Stirn runzelte und vor sich hin murmelte, nahm sie das Buch am Abend mit in ihre Räume im Gästetrakt.
Wenn auch zwischen Min und Faile kühle Gleichgültigkeit herrschte, war zwischen Min und Berelain keinerlei Feindseligkeit zu spüren. Als Somara am zweiten Nachmittag Berelain ankündigte, legte Rand seinen Mantel an, ging in den Vorraum und stellte den hohen, vergoldeten Stuhl aufs Podest, bevor er Somara befahl, sie hereinzulassen. Min begab sich jedoch nur widerwillig in den Wohnraum. Berelain rauschte herein, schön wie immer, in einem weichen blauen Gewand, das auch genauso tief ausgeschnitten war wie immer – und ihr Blick fiel auf Min in ihrem hellrötlichen Mantel und der gleichfarbigen Hose. Mehrere lange Augenblicke hätte Rand genauso gut nicht vorhanden sein können. Berelain betrachtete Min offen von Kopf bis Fuß. Min vergaß den Wohnraum; sie stemmte die Hände in die Hüften, stand mit einem gebeugten Knie da und betrachtete Berelain genauso offen. Sie lächelten einander an. Rand glaubte, ihm stünden die Haare zu Berge, während sie dies taten. Er wurde an zwei fremde Katzen erinnert, die gerade entdeckt hatten, dass sie in demselben kleinen Raum eingesperrt waren und offensichtlich beschlossen hatten, dass es jetzt keinen Sinn mehr hatte, sich zu verstecken. Min ging – oder besser gesagt: schwebte; es gelang ihr tatsächlich, Berelains Gang wie den eines Jungen wirken zu lassen! – zu einem Sessel und setzte sich mit übereinandergeschlagenen Beinen und noch immer lächelnd hin. Licht, wie diese Frauen lächelten.
Schließlich wandte sich Berelain zu Rand um, breitete ihre Röcke weit aus und vollführte einen tiefen Hofknicks. Er hörte Lews Therin in seinem Kopf brummen, der den Anblick einer außerordentlich schönen Frau, die ihre Reize überaus großzügig darbot, genoss. Rand schätzte ebenfalls, was er sah, obwohl er sich fragte, ob er zumindest so lange fortschauen sollte, bis sie sich wieder aufgerichtet hätte, aber er hatte sich bereits aus einem bestimmten Grund auf das Podest gestellt. Er versuchte, seine Stimme sowohl vernünftig als auch fest klingen zu lassen.
»Rhuarc hat angedeutet, dass Ihr Eure Pflichten vernachlässigt, Berelain. Anscheinend hieltet Ihr Euch tagelang in Euren Räumen verborgen, nachdem ich das letzte Mal hier war. Ich hörte, dass ein ernsthaftes Gespräch notwendig war, um Euch wieder hervorzulocken.« Es waren nicht genau Rhuarcs Worte, aber Rand hatte diesen Eindruck gewonnen. Ihre Wangen färbten sich karmesinrot, wodurch Rand sich bestätigt fühlte. »Ihr wisst, warum Ihr hier die Befehlsgewalt habt. Ich kann keine Cairhiener gebrauchen, die sich auflehnen, weil sie glauben, ich hätte ihnen einen Aiel vor die Nase gesetzt.«
»Ich war … besorgt, mein Lord Drache.« Trotz des Zögerns und der geröteten Wangen klang ihre Stimme gefasst. »Seit die Aes Sedai gekommen sind, sprießen die Gerüchte. Darf ich fragen, wer hier, Eurer Meinung nach, tatsächlich regieren soll?«
»Elayne Trakand. Die Tochter-Erbin von Andor und jetzt die Königin von Andor.« Zumindest bald. »Ich weiß nicht, welche Gerüchte Ihr meint, aber kümmert Euch besser darum, die Dinge in Cairhien in Ordnung zu bringen, und überlasst mir die Aes Sedai. Elayne wird Euch dankbar dafür sein, was Ihr hier leistet.« Min schnaubte verächtlich.
»Sie ist eine gute Wahl«, sagte Berelain nachdenklich. »Ich glaube, die Cairhiener werden sie anerkennen und vielleicht sogar auch die Aufständischen in den Bergen.« Das war erfreulich zu hören. Berelain konnte Strömungen im Land gut beurteilen, vielleicht genauso gut wie jede Cairhienerin. Sie atmete tief ein, woraufhin Lews Therin sein Gebrumm unterbrach. »Was die Aes Sedai betrifft – ein Gerücht besagt, sie wären gekommen, um Euch zur Weißen Burg zu geleiten.«
»Und ich sagte, überlasst die Aes Sedai mir.« Es war nicht so, dass er Berelain misstraute. Er traute ihr durchaus zu, Cairhien zu regieren, bis Elayne den Sonnenthron einnahm. Er traute ihr sogar zu, selbst keinerlei Ehrgeiz hinsichtlich des Throns zu hegen. Aber er wusste auch: Je weniger Leute sich der Tatsache bewusst waren, dass er Pläne mit den Aes Sedai hatte, desto geringer war die Gefahr, dass Coiren erführe, dass er über ihr Gold und ihre Edelsteine hinausdachte.
Sobald sich die Türen hinter Berelain geschlossen hatten, schnaubte Min erneut. »Ich frage mich, warum sie sich die Mühe macht,
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