Das Rad der Zeit 8. Das Original: Der Weg der Klingen (German Edition)
würden sie hart angehen, wenn sie davon erfuhren. Von der Scham. Zu viel Stolz, würden sie es nennen. Amys sollte es verstehen. Sie war einst eine Tochter des Speers gewesen. Es war beschämend, bei etwas zu versagen, wozu man befähigt sein sollte. Hätte sie nicht das Gewebe festhalten müssen, wäre sie davongerannt, damit niemand sie sehen konnte.
Der Aufbruch war sorgfältig geplant worden, und der ganze Stallhof geriet abrupt in Bewegung, sobald sich das Wegetor vollständig eröffnet hatte. Zwei Frauen des Nähkränzchens zogen die Schattenläuferin auf die Füße, und die Windsucherinnen bildeten hinter Renaile din Calon eilig eine Reihe. Die Diener begannen Pferde aus den Ställen heranzuführen. Lan, Birgitte und einer der Behüter Careanes, ein schlanker Mann namens Cieryl Arjuna, sprangen sogleich einer nach dem anderen durch das Wegetor. Wie die Far Dareis Mai beanspruchten auch die Behüter stets das Recht, als Kundschafter tätig zu werden. Aviendha wollte ihnen folgen, aber das war nicht möglich. Anders als Elayne konnte sie keine fünf oder sechs Schritte weit gehen, ohne dass ihr Gewebe schwächer wurde, und dasselbe geschah, wenn sie es abbinden wollte. Es war sehr enttäuschend.
Dieses Mal drohte keine erkennbare Gefahr, sodass die Aes Sedai unmittelbar folgten, auch Elayne und Nynaeve. Bauernhöfe standen in dem bewaldeten Gebiet dicht an dicht, und ein wandernder Schafhirte oder ein junges Paar, das Ungestörtheit suchte, müssten vielleicht daran gehindert werden, zu viel zu sehen, aber keine Schattenseelen oder Schattenläufer konnten diese Lichtung kennen. Nur sie, Elayne und Nynaeve kannten sie, und sie hatten bei ihrer Wahl des Ortes aus Angst vor Lauschern nicht darüber gesprochen. Auf der Lichtung sah Elayne Aviendha fragend an, aber Aviendha bedeutete ihr weiterzugehen. Pläne wurden gemacht, um befolgt zu werden, es sei denn, es gab einen Grund, sie zu ändern.
Die Windsucherinnen betraten nacheinander die Lichtung, alle plötzlich unschlüssig, als sie sich diesem Wegetor näherten, von dem sie niemals auch nur geträumt hatten. Sie atmeten tief durch, bevor sie hindurchtraten. Das Kribbeln kehrte jäh zurück.
Aviendha hob den Blick zu den auf den Stallhof hinausführenden Fenstern. Jedermann könnte sich hinter den weißen schmiedeeisernen oder holzgeschnitzten Sichtblenden verbergen. Tylin hatte den Dienern befohlen, diesen Fenstern fernzubleiben, aber wer würde Teslyn aufhalten oder Joline oder … Etwas zog ihren Blick höher hinauf, zu den Kuppeln und Türmen. Schmale Gänge umgaben einige der schlanken Türme, und auf einem sehr hoch aufragenden Turm war eine schwarze Gestalt zu sehen, von dem in ihrem Rücken befindlichen Strahlenkranz der Sonne scharf abgezeichnet. Ein Mann.
Ihr stockte der Atem. Nichts an seiner Haltung mit den Händen auf der Steinbrüstung zeugte von Gefahr, und doch wusste sie, dass er derjenige war, der das Kribbeln zwischen ihren Schulterblättern verursachte. Eine der Schattenseelen würde nicht einfach dort stehen bleiben und beobachten, aber dieses Wesen, dieser Gholam … Eis bildete sich in ihrer Magengrube. Er war vielleicht einfach nur ein Palastdiener. Vielleicht, aber sie glaubte es nicht. Man musste sich nicht schämen, Angst zu empfinden.
Sie schaute besorgt zu den noch immer mit quälender Langsamkeit durch das Wegetor ziehenden Frauen. Die Hälfte der Meervolk-Frauen war hindurchgelangt, und das Nähkränzchen wartete hinter den übrigen, die Schattenläuferin fest im Griff, während ihr Unbehagen, dort hindurchgehen zu müssen, von Unmut überlagert wurde, weil es den Meervolk-Frauen erlaubt war, zuerst zu gehen. Wenn sie ihren Verdacht äußerte, würden sich die Kusinen gewiss beeilen – die bloße Erwähnung der Schattenseelen versetzte sie in Angst und Schrecken –, während die Windsucherinnen durchaus versuchen könnten, die Schale sofort für sich zu beanspruchen. Für sie war die Schale wichtiger als alles andere. Aber nur eine blinde Närrin blieb gemächlich stehen, während sich ein Löwe an die Herde anschlich, die sie bewachen sollte. Sie ergriff eine der Atha’an Miere an einem roten Seidenärmel.
»Sagt Elayne …« Ein Gesicht wie glatter schwarzer Stein wandte sich ihr zu. Irgendwie gelang es der Frau, ihre vollen Lippen dünn erscheinen zu lassen. Ihre Augen waren schwarze Kieselsteine, flach und hart. Welche Botschaft konnte sie schicken, die nicht all die Schwierigkeiten heraufbeschwor, die sie von
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