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Das Rätsel der dritten Meile

Das Rätsel der dritten Meile

Titel: Das Rätsel der dritten Meile Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Colin Dexter
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wenn man ihn einmal gesehen hatte. Sein wuchtiger Schädel war umrahmt von einem Kranz lockiger grauer Haare, und er war in ganz Oxford bekannt für seine auffälligen Anzüge. Auch heute war er alles andere als dezent gekleidet und trug zu seinem grellfarbigen Anzug überdies noch eine leuchtend grüne Samtweste. Er war selbstbewußt und energisch. Ein erfolgreicher Mann, Herr in seinem Haus.
    «Wie ich eben sah, lassen Sie jetzt hier auch Frauen zu», bemerkte Morse, nachdem er wohlig seufzend einen ersten Schluck von seinem Gin genommen hatte.
    «Ja, das stimmt. Wir waren mit die letzten, die sich dazu entschlossen haben, und die Entscheidung ist uns nicht leichtgefallen, aber ich denke, alles in allem war es doch richtig, daß wir uns dazu durchgerungen haben. Einige von ihnen sind auch wirklich ganz große Klasse.»
    «Sie meinen: attraktiv?»
    Der Rektor lächelte amüsiert. «Auch das. Ein paar wenigstens.»
    «Und sie schlafen hier im College?»
    «Zum Teil, aber das ist ja eigentlich nichts Neues. Es hat auch früher immer schon einige gegeben, die das getan haben.»
    Morse nickte. Ganz gegen seinen Willen wanderten seine Gedanken zurück zu jener Zeit unmittelbar nach dem Krieg, als er voller Hoffnungen nach Oxford gekommen war, um dort mit einem Stipendium, das ihm das Gymnasium seiner Heimatstadt ausgesetzt hatte, Klassische Philologie zu studieren.
    «Wir haben sogar zwei dabei, die mit Eins abschließen werden», fuhr der Rektor fort. «Ich meine, unter den Studentinnen. Die eine hat Klassische Philologie studiert, die andere Kunstgeschichte. Ihre Leistungen sind wirklich sehr beachtlich. Die Altphilologin, Jane...» Er brach plötzlich ab, beugte sich verlegen lächelnd zu Morse hinüber und sagte, während er, ohne es zu merken, den auffallenden Onyxring am kleinen Finger seiner linken Hand hin und her drehte: «Ich furchte, meine Begeisterung ist etwas mit mir durchgegangen; eigentlich hätte ich kein Wort von dem, was ich Ihnen eben erzählt habe, sagen dürfen. Die Notenliste wird erst in ungefähr einer Woche veröffentlicht, und deshalb möchte ich Sie dringend bitten...»
    Morse hob nur beruhigend die Hand: «Ich habe nichts gehört, Sie können sich auf meine Diskretion verlassen. Ich glaube übrigens zu wissen, was Sie mir sagen wollten.»
    «Ach?»
    «Ich nehme an, diese Jane ist gleichzeitig Collegebeste und wird in Kürze eine Einladung zu einer mündlichen Prüfung ehrenhalber erhalten.»
    Der Rektor nickte. «Ja. Sie ist sehr begabt und dazu noch außerordentlich hübsch. Die hätte Ihnen, wenn sie Ihnen damals über den Weg gelaufen wäre, bestimmt gefallen.»
    «Sie würde mir auch jetzt noch gefallen, wenn sie mir über den Weg laufen würde, nehme ich an», bemerkte Morse trocken.
    Der Rektor lachte. Morse’ offenherzige Äußerungen machten ihm immer Spaß.
    «Aber», fuhr Morse fort, und ein etwas geringschätziges Lächeln spielte um seine Lippen, «Begabung hin, Begabung her, früher oder später wird sie auf einen gutaussehenden, aber hohlköpfigen jungen Mann hereinfallen, nichts Besseres zu tun wissen, als ihn möglichst schnell zu heiraten, und in ein paar Jahren hat sie ein halbes Dutzend Kinder am Hals und sitzt als frustrierte Hausfrau in irgendeiner öden Kleinstadt.»
    «Finden Sie nicht, daß Sie ein bißchen sehr schwarzmalen?» wandte der Rektor ein.
    «Na ja», gab Morse zu, «ich bin wohl ein bißchen neidisch, dabei gibt es im Leben ja wirklich eine Menge Dinge, die weitaus wichtiger sind als eine Eins in Klassischer Philologie.»
    «Als da wären?» Der Rektor sah ihn neugierig an.
    Morse überlegte einen Moment, dann schüttelte er den Kopf. «Das kann ich Ihnen jetzt so auch nicht sagen.»
    Der Rektor nickte, als hätte er nichts anderes erwartet. «Sehen Sie? Und was diesen speziellen Fall angeht, da bin ich mir sogar sehr sicher, daß diese Eins für das Leben des Mädchens von großer Wichtigkeit, wenn nicht gar von entscheidender Bedeutung sein wird. Wir haben nämlich vor, ihr eine Dozentur bei uns anzubieten.»
    «Und das haben Sie ihr, wie ich Sie kenne, natürlich auch schon mitgeteilt», stellte Morse fest.
    «Aber das bleibt unter uns, Morse! Ich hoffe, ich kann mich da auf Sie verlassen. Ich hätte das Thema (Prüfungen) gar nicht anschneiden sollen. Jetzt habe ich mehr gesagt, als ich eigentlich wollte.»
    «Das muß an dem Drink liegen», sagte Morse und blickte dabei unverwandt auf sein leeres Glas.
    Der Rektor sprang auf. «Oh, Sie sitzen ja auf

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