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Das Rätsel der dritten Meile

Das Rätsel der dritten Meile

Titel: Das Rätsel der dritten Meile Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Colin Dexter
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dem trockenen. Noch mal dasselbe? War das Verhältnis Gin — Tonic richtig so?»
    «Ein bißchen mehr Gin vielleicht.» Morse nahm sich, während der Rektor ihm das Glas füllte, noch eine Zigarette. «Diese Jane hat doch vermutlich unter ihren Kommilitonen die freie Auswahl, oder?»
    «Und unter den Professoren!»
    Morse sah den Rektor nachdenklich an. «Sie haben es vorgezogen, unverheiratet zu bleiben.»
    «Genau wie Sie.»
    Einige Minuten saßen sie sich stumm gegenüber und nippten nur ab und zu an ihren Drinks. Dann fragte Morse: «Lebt ihre Mutter noch?»
    «Sie meinen, die Mutter von Jane Summers?»
    «Summers heißt sie also; ihren Nachnamen hatten Sie vorhin nicht erwähnt.»
    «Sie stellen manchmal wirklich merkwürdige Fragen, Morse. Keine Ahnung; ich nehme an, ja. Das Mädchen ist erst Anfang zwanzig, die Mutter ist also wahrscheinlich noch nicht sehr alt. Aber warum interessiert Sie das überhaupt?»
    Doch Morse hörte ihn kaum. Eben im Hof war es ihm verhältnismäßig leicht gelungen, den Gedanken an seine Studentenzeit schnell wieder beiseite zu schieben; aber jetzt, während der Unterhaltung, hatte ihn die Vergangenheit ganz unmerklich plötzlich eingeholt, und er wurde der Erinnerungen nicht mehr Herr. Ihm war zum Weinen zumute.
    Wie von weither drang die Stimme des Rektors an sein Ohr.
    «Hören Sie mir überhaupt zu?»
    «Wie? Oh, Verzeihung!»
    «Ich glaube, Sie haben gar nicht mitbekommen, was ich eben gesagt habe.»
    «Entschuldigen Sie, das muß an den Drinks liegen.» Sein Glas war wieder leer, und der Rektor war auch schon aufgestanden, um es nachzufüllen.
    «Ich habe vor, am Wochenende ein paar Tage wegzufahren. Wenn Sie während dieser Zeit für mich ein Auge auf die Dinge haben könnten...»
    «Ich furchte, ich war wirklich etwas unaufmerksam eben — auf was für Dinge?»
    «Na, diese Angelegenheit mit Browne-Smith.» Der Rektor wurde allmählich etwas ungeduldig. «Ein solches Verhalten sieht ihm so gar nicht ähnlich. Er ist sonst in allem, was er tut, hyperkorrekt und absolut zuverlässig. Die ganze Sache ist einfach — nun, einfach merkwürdig. Und es scheint, daß er außer diesem nichtssagenden Brief keine Nachrichten hinterlassen noch sonst irgendwelche Vorkehrungen getroffen hat. Ein paar seiner Studenten hätten noch Tutorien bei ihm gehabt; er hat sie einfach versetzt.»
    Morse hatte sich inzwischen gefangen und war wieder in die Gegenwart zurückgekehrt. «Haben Sie diesen Brief zufällig da?»
    Der Rektor nickte, zog einen zusammengefalteten Bogen Papier aus seiner Jackettasche und reichte ihn Morse. Der Brief war getippt und bestand aus nur wenigen Zeilen.

    Ich habe unerwarteterweise eine Einladung erhalten, der zu wiederstehen ich mich nicht imstande sah und werde deshalb für einige Tage verreist sein. Bitte sagen Sie dem Hausburschen, er soll nachmeinen Räumen sehen, sich um die Wäsche kümmern und meine Mahlzeiten bis auf weiteres abbestellen.
    B-S

    Morse spürte ein wohlvertrautes Kribbeln entlang der Wirbelsäule, enthielt sich aber jeden Kommentars.
    «Ich kann einfach nicht glauben, daß dieser Brief von ihm stammt», sagte der Rektor irritiert.
    «Nein?»
    «Nein.»
    «Wann kam der Brief an?»
    «Vor zwei Tagen — am Montag morgen.»
    «Und wann ist er zuletzt gesehen worden?»
    «Am Freitag morgen gegen acht. Einer unserer Professoren hat zufällig beobachtet, wie er in den Zug nach London gestiegen ist.»
    «Kam der Brief mit der Post?»
    «Nein, der Pedell sagt, er sei ihm, während er nur kurz abwesend war, auf den Tisch gelegt worden.»
    «Was ich immer noch nicht ganz verstehe», sagte Morse, «ist, was Sie eigentlich darauf gebracht hat, daß dieser Brief nicht von Browne-Smith sein kann.»
    Der Rektor seufzte genervt. «Weil es ein Unding ist. Er würde einen solchen Brief nie schreiben, geschweige denn ihn abschicken oder abgeben oder was auch immer. Seit ich vor nunmehr über dreißig Jahren nach Oxford kam, habe ich niemanden getroffen, der mit derartig fanatischem Eifer jeden noch so kleinen Verstoß gegen die Regeln der englischen Sprache aufzuspüren und zu eliminieren sucht wie er. Eine solche Besessenheit für sprachliche Reinheit und Richtigkeit ist mir sonst nur noch von dem Lyriker E. A. Housman bekannt. Zu Browne-Smiths Aufgaben hier am College gehört es unter anderem, bei den Konferenzen Protokoll zu fuhren. Sie müßten ihn mal hören, wie er tobt, wenn unsere Sekretärin beim Abtippen seiner Mitschrift auch nur ein Komma falsch

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