Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Das Rätsel der dritten Meile

Das Rätsel der dritten Meile

Titel: Das Rätsel der dritten Meile Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Colin Dexter
Vom Netzwerk:
nicht mehr erstaunt, daß er ihre Adresse kannte.
    «Dann werde ich bei Ihnen vorbeikommen, wenn Ihnen das recht ist.»
    Am nächsten Abend war er tatsächlich erschienen und hatte ihr sein Vorhaben erläutert. Sie hatte sich nach einigem Überlegen bereit erklärt, die Rolle, die er ihr dabei zugedacht hatte, zu übernehmen. Er hatte ihr gleich vorab einen Teil der ausgemachten Summe gegeben. Und heute hatte nun alles wie geplant stattgefunden, sie hatte getan, was ihr gesagt worden war, und anschließend das ihr noch zustehende Geld erhalten. Schnell verdientes Geld, sie wollte sich gar nicht beklagen, aber...
    Es war dieses Aber und was damit zusammenhing, das ihr Kopfzerbrechen bereitete. Sie hatte darauf bestanden, gründlich über ihren Part informiert zu werden, aber hätte sie nicht auch Auskunft darüber verlangen sollen, was hinterher, nach ihrem Auftritt, mit jenem Mann geschehen sollte? Andererseits, er würde es doch nicht wagen, ihn zu töten — oder doch?

    Sechstes Kapitel
    Mittwoch, 16. Juli

Der Rektor des Lonsdale College verletzt das Gebot der Diskretion und offenbart einem Polizeiinspektor seine Besorgnis bezüglich eines Kollegen.

    Fünf Tage nach den im vorangegangenen Kapitel beschriebenen Ereignissen saß Chief Inspector Morse von der Thames Valley Constabulary in Kidlington/Oxon in seinem Büro und grübelte darüber nach, ob er mit seinem gegenwärtigen Leben nun zufrieden oder doch eher unzufrieden sei. Seine Nachdenklichkeit mochte damit zusammenhängen, daß er beim Aufwachen den Entschluß gefaßt hatte, ab sofort für einige Tage auf Zigaretten und Alkohol zu verzichten, um seiner strapazierten Leber und Lunge die Möglichkeit zu geben, sich zu erholen. Er hatte den Entschluß auch gleich in die Tat umgesetzt, die noch halbvolle Zigarettenschachtel in den Mülleimer geworfen und sein Portemonnaie vorsichtshalber zu Hause liegengelassen. Solchermaßen allen Anfechtungen vorgebeugt war bis halb zwölf auch alles gutgegangen — doch dann kam der Anruf. Es war der Rektor des Lonsdale College; er lud Morse ein, mit ihm zu Mittag zu essen.
    «Also um halb eins bei mir. Dann können wir vorher in Ruhe noch ein Gläschen trinken.»
    Morse war auch nur ein Mensch. «Das ist eine ausgezeichnete Idee», sagte er, ohne lange zu überlegen.
    Auf dem Weg zu den Räumen des Rektors, die vom ersten Hof aus zu erreichen waren, kamen Morse zwei junge Mädchen entgegen, die sich, heftig gestikulierend, lautstark miteinander unterhielten. Sie schnattern wie die Gänse, dachte Morse, der bei Frauen Anmut und Zurückhaltung liebte.
    «Aber Rosemary rechnet fest mit einer Eins! Sie hat mir neulich noch gesagt, wie schlimm es für sie wäre, wenn sie...»
    «Das muß aber vor der letzten Klausur gewesen sein. Sie meint, die hätte sie völlig verhauen.»
    «Ich habe da auch Mist gebaut, glaube ich.»
    «Ich auch.»
    «Das muß aber dann doch eine furchtbare Enttäuschung für sie gewesen sein, oder?»
    Morse hörte die Antwort nicht mehr. Ja, dachte er bitter und fühlte sich auf einmal sehr alt, das Leben ist voller Enttäuschungen, das werdet ihr auch schon noch merken. Er wandte sich um und sah ihnen nach, wie sie am Pförtnerhäuschen vorbei eilig zum Ausgang strebten. Sie bewegten sich so selbstverständlich... Vermutlich studierten sie hier, und das hieß, daß also auch das Lonsdale College seine jahrelange Weigerung, Frauen zum Studium zu akzeptieren, inzwischen aufgegeben haben mußte. Er versuchte sich vorzustellen, wie es wohl gewesen wäre, wenn es am St. John’s College damals, als er dort Student war, Mädchen gegeben hätte, aber es wollte ihm nicht recht gelingen. Die Zeiten hatten sich eben geändert. Doch dann zwang er sich abrupt, an etwas anderes zu denken. Die Erinnerung an jene Jahre war immer noch zu schmerzhaft.
    «Was darf ich Ihnen anbieten», fragte der Rektor. «Bier habe ich leider nicht da, aber wir wär’s mit einem Gin Tonic?»
    «Ja, danke», sagte Morse und beugte sich über den Tisch, um sich aus der gutgefüllten Zigarettendose zu bedienen.
    Der Rektor reichte Morse mit wohlwollend selbstzufriedenem Lächeln sein Glas; man merkte ihm an, daß er es genoß, den Gastgeber zu spielen. Während der zehn Jahre, die Morse ihn kannte, schien er sich so gut wie gar nicht verändert zu haben. Zwar war er ein bißchen fülliger geworden, hielt sich aber als beinahe Sechzigjähriger nicht weniger aufrecht als mit fünfzig. Er war ein Mann, den man nicht so schnell wieder vergaß,

Weitere Kostenlose Bücher