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Das Rätsel der dritten Meile

Das Rätsel der dritten Meile

Titel: Das Rätsel der dritten Meile Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Colin Dexter
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setzt. Und wenn er selbst etwas mitzuteilen hat, sei es auch nur, daß er am schwarzen Brett neue Anfangszeiten für seine Vorlesungen bekanntgibt, so fertigt er vorher erst einen Entwurf an — und zwar maschinegeschrieben.»
    Morse nahm den Brief und las ihn noch einmal durch. «Sie meinen, er hätte im zweiten Satz für die indirekte Rede den Konjunktiv verwandt?»
    «Ja, unbedingt.»
    «Hm.»
    «Mein Argument scheint Sie nicht zu überzeugen.»
    «Doch, doch. Ich denke, Sie könnten recht haben.»
    «Das freut mich zu hören.» Der Rektor schien erleichtert.
    «Glauben Sie, daß er irgendwo eine Tussi sitzen hat, mit der er sich jetzt vergnügt?»
    «Eine, wie Sie es genannt haben, hat es in seinem Leben, soviel ich weiß, nie gegeben.»
    «Ist vielleicht Jane Summers auch verreist?»
    Der Rektor lachte amüsiert. «Auf was für Ideen Sie kommen! Nein, ich habe sie heute morgen noch gesehen, wenn Sie es unbedingt wissen wollen.»
    «Und bei dieser Gelegenheit haben Sie ihr dann gleich gesagt, daß sie als Beste abgeschnitten hat?»
    «Nun, ganz so deutlich bin ich nicht geworden. Ich habe ihr lediglich bedeutet, daß sie mit ihrem Abschluß zufrieden sein könne, und daß wir überlegten, ihr eine Dozentur anzubieten — aber das habe ich Ihnen ja schon erzählt.» Er sah auf die Uhr. «Es wird langsam Zeit, daß wir zum Essen hinuntergehen. Ich hoffe, Sie haben Appetit mitgebracht.»
    «Darf ich den behalten?» fragte Morse und hielt den Brief in die Höhe. Der Rektor nickte.
    «Einerseits freut es mich ja, daß Ihnen mein Argument in bezug auf den Brief einleuchtet, andererseits fange ich allmählich an, mir Sorgen zu machen.»
    «Es könnte natürlich sein», überlegte Morse laut, «daß er den Brief diktiert hat und hinterher nicht mehr dazu gekommen ist, ihn durchzulesen. Selbst getippt hat er ihn auf gar keinen Fall, da bin ich ganz Ihrer Meinung.»
    «Das klingt ja so entschieden; fast als ob Sie ihn persönlich kennen würden», sagte der Rektor erstaunt.
    «Ich kenne ihn auch. Er war einer meiner Tutoren, als ich für den B. A. gepaukt habe. Er war damals schon genau so, wie Sie ihn jetzt schildern. Der kleinste Fehler brachte ihn sofort auf die Palme, als hätte man sich eines schlimmen Fehltritts schuldig gemacht. Das Merkwürdige ist nur, daß ich ihn trotzdem respektiert habe, und mich selber heute zum Teil verhalte wie er. Zum Beispiel lasse ich meiner Sekretärin auch keinen Fehler durchgehen, jedenfalls nicht, wenn ich es verhindern kann.»
    «Sie meinen also, daß Browne-Smith aus irgendeinem Grund nicht in der Lage war, es zu verhindern?» Der Rektor sah Morse ernst an.
    Morse nickte. «Er wäre lieber gestorben, als einen Brief aus den Händen zu geben, in dem widerstehen mit geschrieben wird.»
    «Aber Sie denken doch nicht etwa, daß er... tot ist?» sagte der Rektor, schon an der Tür.
    «Aber nein, woher denn», beruhigte ihn Morse, «so wörtlich habe ich es nicht gemeint.»

Siebtes Kapitel
    Mittwoch, 16. Juli, und die darauffolgende Woche

Die Leser erfahren interessante Einzelheiten aus der Vergangenheit von Chief Inspector Morse, und diejenigen unter ihnen, die bereits ungeduldig auf das Auftauchen der ersten Leiche warten, haben Grund zur Freude.

    Gegen halb drei fand Morse es an der Zeit aufzubrechen. Auf dem Weg zurück nach Kidlington hielt er in der High Street an, um sich bei einem Tabakhändler, der ihn gut kannte und bereit war, ihm Kredit zu geben, mit Zigaretten einzudecken. Kurz vor drei war er wieder in seinem Büro. Während seiner Abwesenheit hatte sich nichts ereignet; er hätte ruhig noch länger wegbleiben können.
    Beim Abschied hatte er dem Rektor versprechen müssen, «die Dinge im Auge zu behalten» — eine, wie Morse fand, ziemlich bedeutungslose Wendung, durch die er sich zu nichts verpflichtet fühlte — falls sich herausstellen sollte, daß Browne-Smiths überraschende Abwesenheit doch einen ernsten Hintergrund hatte.
    Mochte es nun am Alkohol liegen oder an seinem Besuch im College — Morse befand sich an diesem Nachmittag in einer seltsam wehmütigen Stimmung, und zum erstenmal seit langer Zeit überließ er sich der Erinnerung an jene schicksalhaften Jahre, als er selbst in Oxford Student gewesen war.
    Es hatte alles so vielversprechend begonnen damals. Nach achtzehn Monaten als Soldat bei einer Fernmeldeeinheit hatte er am St. John’s College das Studium der Klassischen Philologie aufgenommen, und die ersten beiden Jahre dort waren, wie

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