Das Rätsel der dritten Meile
er im nachhinein realisiert hatte, die glücklichste und fruchtbarste Zeit seines Lebens gewesen. Er hatte regelmäßig die Vorlesungen besucht, sich zäh und fleißig mit den lateinischen und griechischen Texten herumgeschlagen und sein erstes Examen, wie allgemein erwartet, mit Eins bestanden. Zwei weitere Jahre lagen vor ihm, an deren Ende das Abschlußexamen stehen würde, das nach Einschätzung aller, die ihn kannten, kein großes Problem für ihn darstellen würde, da sein Verstand für die Fächer, mit denen er nun zu tun hatte — Geschichte, Logik und Philosophie — geradezu prädestiniert schien. Eine verheißungsvolle Zukunft lag vor ihm. Doch dann, im dritten Jahr, traf er die Frau seiner Träume.
Sie hatte ihr Studium in Leicester bereits abgeschlossen, doch waren ihre Leistungen so außergewöhnlich gewesen, daß das St. Hilda’s College in Oxford sie als Doktorandin angenommen hatte. Während des ersten Trimesters hatte sie weitab von allem in einem möblierten Zimmer in Cowley gelebt; doch sie hatte sich mit dem Roßhaarsofa und den schweren, dunklen Möbeln nie recht anfreunden können und deshalb dankbar zugegriffen, als sich ihr die Gelegenheit bot, in der St. John’s Street Nr. 22 zu Anfang des Frühjahrstrimesters eine kleine Wohnung zu beziehen. Jetzt wohnte sie mitten im Zentrum. Zur Bodleian Library, in der sie täglich mehrere Stunden arbeitete, war es nur ein kurzer Weg, und die neue Wohnung war so viel heller und freundlicher als ihr altes Zimmer, daß sie sich immer wieder freute, wie gut sie es getroffen hatte. Das Leben meinte es offenbar gut mit ihr.
An Morse’ College war es üblich, daß der Dekan den Studenten im drittenjahr Räume in collegeeigenen Häusern, jedoch außerhalb des eigentlichen Collegegeländes zuwies, und so zog Morse im Herbst desselben Jahres ebenfalls um — in die St. John’s Street Nr. 24.
Er sah sie zum erstenmal bewußt an einem Abend Ende Februar. Es war im New Theatre. Die Theatergruppe der Universität spielte den Dr. Faustus. Während der Pause kämpfte sich Morse durch die Menge im Foyer, um sich an der Bar ein Bier zu holen. Er hatte gerade bestellt, als er spürte, wie eine Hand sich leicht auf seine Schulter legte. Er drehte sich um. Hinter ihm stand ein blondes junges Mädchen mit dunklen Augen und sah ihn bittend an.
«Haben Sie schon bestellt?»
«Ja, ich mache Ihnen gleich Platz hier.»
«Würde es Ihnen etwas ausmachen, für mich auch zu bestellen? Ich glaube, Sie kommen schneller dran als ich.»
«Aber gern.»
«Zwei Gin mit Tonic, bitte!» Sie drückte ihm eine Pfundnote in die Hand und war im Gedränge verschwunden.
Er mußte erst eine Weile suchen, ehe er sie in einer abgelegenen Ecke wiederfand. Sie saß neben einem unscheinbaren dunkelhaarigen Mädchen, offenbar einer Freundin. Vorsichtig, um nichts zu verschütten, wand Morse sich zwischen den Grüppchen plaudernder Theaterbesucher hindurch und stellte schließlich aufatmend die Gläser vor ihnen ab.
«Ich hoffe, es war Ihnen nicht zuviel Mühe?» Die Blonde sah ihn aus ihren dunklen Augen fragend an, und Morse ertappte sich dabei, daß er sie fasziniert anstarrte. Sie war hübsch, sie war verdammt hübsch. Die schmale Nase, die winzigen Grübchen, die schöngeschwungenen Lippen, die sich jetzt zu einem fast spitzbübischen Lächeln teilten — er spürte, wie sein Herz schneller klopfte.
«Aber nein. Überhaupt nicht. Ein ziemlicher Andrang heute abend hier.»
«Gefällt Ihnen das Stück?»
«Sehr. Und Ihnen?»
«Mir auch. Aber ich liebe Marlowe sowieso. Genau wie Sheila. Oh — Entschuldigung, es tut mir leid. Wahrscheinlich kennen Sie sich noch gar nicht, oder?»
«Sie kenne ich auch nicht», sagte Morse geistesgegenwärtig.
«Siehst du, was hab ich dir gesagt», schaltete sich die Dunkelhaarige ein. Sie lächelte Morse verständnisvoll zu: «Wendy sagt, sie würde Sie kennen; sie wohnten im Haus neben ihr.»
«Ah ja?» Etwas Besseres fiel ihm nicht ein.
Das Klingelzeichen zum letzten Akt ertönte. Morse nahm all seinen Mut zusammen und fragte, ob man nicht vielleicht nach dem Theater noch zusammen etwas trinken gehen könne.
«Ja, gern, warum nicht?» sagte Sheila bereitwillig. «Du hättest doch auch Lust, Wendy, oder?»
Wendy hatte nichts dagegen, und sie verabredeten, sich nach der Vorstellung in der Cocktailbar des Randolph, das ganz in der Nähe des Theaters lag, zu treffen.
Der letzte Akt schien sich ins Unendliche zu dehnen; schließlich hielt Morse es
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