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Das Rätsel der dritten Meile

Das Rätsel der dritten Meile

Titel: Das Rätsel der dritten Meile Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Colin Dexter
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nicht mehr aus und verließ das Theater noch vor dem Schluß. In seinem Kopf pochte unablässig ihr Name — Wendy. Die Bar des Randolph war noch fast leer. Er setzte sich mit Blick auf die Tür und bestellte ein Bier. Nach etwa einer halben Stunde begann sich der Raum allmählich zu füllen, die Vorstellung schien demnach zu Ende zu sein. Finster entschlossen verteidigte er die beiden freien Stühle an seinem Tisch gegen neu eintreffende Gäste. Nein, leider nicht, er erwarte noch zwei Damen.
    Beim Anblick von Sheila sprang er wie elektrisiert auf. Sie kam an den Tisch, und er fragte sie, was sie trinken wolle, und dann zögernd: «Soll ich für Wendy gleich mitbestellen?»
    «Ach, Wendy», sagte sie gleichmütig, «die kommt heute abend doch nicht. Sie sagte, es tue ihr leid, aber ihr sei eingefallen, daß sie...»
    Morse hörte gar nicht mehr hin. Was sie als Grund angab, interessierte ihn nicht. Seine Freude war verflogen; der ganze Abend dünkte ihn auf einmal schal. Er bestellte Sheila einen zweiten Drink, dann noch einen dritten. Um halb elf mußte sie gehen, um ihren Bus nicht zu verpassen. An der Tür drehte sie sich noch einmal um und winkte ihm halbherzig zu, und Morse winkte genauso halbherzig zurück, erleichtert, daß er sie endlich los war.
    Er zahlte und stand auf. Draußen pfiff ein eisiger Wind; es hatte zu schneien begonnen. Morse ging langsam, als spüre er die Kälte nicht. In der St. John’s Street blieb er vor der Nr. 22 stehen. Es gab vier Klingeln mit vier Namensschildern daneben. An der obersten stand: Miss W. Spencer. Hinter ihren Fenstern war es dunkel, und nach ein paar Minuten gab Morse sich einen Ruck, ging ein Haus weiter, schloß auf und stieg müde wie ein alter Mann die Treppe zu seinem Zimmer hinauf.
    Während der nächsten Tage schwänzte er seine Vorlesungen und Übungen, verzichtete auf die meisten Mahlzeiten und trieb sich so unauffällig wie möglich auf der Straße herum. Doch umsonst — er bekam sie nicht zu Gesicht. War sie vielleicht verreist, oder war sie krank? Am Abend des vierten Tages betrat er mit entschlossenen Schritten die Bar des Randolph, bestellte sich kurz hintereinander zwei doppelte Whisky, kehrte umgehend zurück in die St. John’s Street. Vor der Nr. 22 holte er noch einmal tief Luft, dann drückte er mit klopfendem Herzen auf die oberste Klingel.
    Sie öffnete die Tür und sah ihm lächelnd entgegen, als habe sie ihn erwartet.
    «Du hast aber lange gebraucht», sagte sie.
    «Ich war mir nicht sicher...»
    «Aber du wußtest doch, wo du mich finden konntest.»
    «Ich...»
    «Oder dachtest du, es war reiner Zufall, daß ich dich im Theater ansprach?»
    «Ich...»
    «Möchtest du nicht hereinkommen?»
    Er war der Heftigere und Ungestümere von ihnen beiden. Schon an diesem Abend eröffnete er ihr, daß er sie liebe. Sie antwortete, sie sei froh, daß sie sich endlich kennengelernt hätten. In den folgenden Wochen und Monaten schwebten sie im siebten Himmel und waren unzertrennlich; sie fuhren in die ländliche Umgebung Oxfords und unternahmen ausgedehnte Spaziergänge, gingen zusammen ins Theater und ins Kino, besuchten Konzerte und Ausstellungen und verbrachten eine Menge Zeit in Pubs und Restaurants miteinander — und nach einer Weile auch im Bett. Es blieb nicht aus, daß sie bei diesem Leben ihre Arbeit vernachlässigten. Am Ende des Sommertrimesters gab sein Tutor Morse freundlich, aber nachdrücklich zu verstehen, daß er wenig Aussicht habe, nächstes Jahr sein Examen zu bestehen, es sei denn, er lege sich in den kommenden Ferien kräftig ins Zeug. Wendy wurde ebenfalls zu einem Gespräch gebeten, in dem man ihr mitteilte, daß sie, sollte ihre Doktorarbeit in den nächsten Monaten nicht deutlichere Fortschritte machen als bisher, Gefahr laufe, ihr Stipendium zu verlieren. Dies hätte das Ende für ihre Promotionspläne bedeutet.
    Überraschenderweise lag Morse mehr als ihr daran, daß sie ihre Studien erfolgreich abschlossen, und er war es denn auch, der darauf drängte, daß sie etwas taten. Aber ihr Einsatz kam zu spät. Kurz vor den Weihnachtsferien erfuhr Wendy, daß man ihr das Stipendium ab I. Januar gestrichen habe, so daß sie ihre Hoffnung zu promovieren nun endgültig begraben mußte. Sie versuchten, sich mit der neuen Situation, so gut es ging, zu arrangieren. Wendy behielt ihr Zimmer und arbeitete abends als Kellnerin im Randolph. Morse bemühte sich weiterhin, seinen Bierkonsum einzuschränken und regelmäßig zu arbeiten, beides

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