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Das Rätsel der dritten Meile

Das Rätsel der dritten Meile

Titel: Das Rätsel der dritten Meile Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Colin Dexter
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allerdings nur mit halbem Erfolg.
    Genau an dem Tag, den sie als Jahrestag ihres ersten unvergeßlichen Abends miteinander festlich hatten begehen wollen, bekam Wendy ein Telegramm. Ihre Mutter habe einen Schlaganfall erlitten, und ihre Anwesenheit zu Hause sei dringend erforderlich. Am nächsten Tag war sie abgefahren — sie kehrte nicht mehr zurück. In den folgenden Monaten gingen unzählige Briefe hin und her, zweimal war Morse nach Somerset gefahren, um sie zu sehen, obwohl er knapp mit Geld war und sich die Fahrtkosten eigentlich nicht leisten konnte. Ganz allmählich begann er jedoch zu begreifen, daß (aus für ihn unerfindlichen Gründen) ihre Mutter für Wendy offenbar wichtiger war als er. Seine Leistungen waren inzwischen so abgesunken, daß auch er sein Stipendium verlor und keinen andern Weg sah, als einen demütigenden Bettelbrief an die Behörde seiner Heimatgrafschaft zu schreiben, in dem er sie mehr oder weniger anflehte, den Wegfall seines Stipendiums durch Zahlungen ihrerseits auszugleichen. Drei Wochen vor seinem Abschlußexamen erhielt er den letzten Brief von Wendy, in dem sie ihm mitteilte, daß sie sich nicht mehr wiedersehen würden. Es habe keinen Zweck mit ihnen, sie habe ihm mehr geschadet als genützt, denn nur sie sei schuld daran, wenn sein akademischer Abschluß jetzt gefährdet sei. Darüber hinaus sei es ihre Pflicht, bei ihrer Mutter zu bleiben und für sie zu sorgen; und nach langem inneren Ringen sei sie jetzt fest entschlossen, dieser Pflicht auch nachzukommen. Sie habe ihn sehr, ja über alle Maßen geliebt und liebe ihn noch, aber ein gemeinsames Leben könne es für sie beide nicht geben; und es sei deshalb auch besser, wenn er ihr nicht mehr schreibe. Sie schloß ihren Brief mit der beschwörenden Bitte, er möge sich im bevorstehenden Examen seiner wahren Fähigkeiten würdig erweisen; das sei ihr wichtiger als alles andere. Morse hatte ihr umgehend telegraphiert, daß er sie unbedingt sehen müsse. Sie hatte jedoch nicht reagiert, und er hatte kein Geld mehr, um noch einmal zu ihr zu fahren. Er wußte nicht mehr, was er noch tun könnte, und so ließ er es denn geschehen.
    Zwei Monate später erfuhr er, daß er sein Examen nicht bestanden hatte. Es war keine große Überraschung mehr gewesen. Er verließ Oxford und kehrte in seine Heimatstadt zurück — um seine Hoffnungen betrogen, menschenscheu und in sich gekehrt, ein skeptisch und mißtrauisch gewordener, aber kein gebrochener junger Mann. Sein Vater, den das Scheitern seines einzigen Sohnes tief getroffen hatte, und der bald darauf starb, gab ihm noch kurz vor seinem Tod den Rat zu versuchen, ob er bei der Polizei Unterkommen könne. Er war dem Rat gefolgt.
    Morse’ hübsche junge Sekretärin kam in sein Zimmer, um ihm einige Briefe zur Unterschrift vorzulegen.
    «Haben Sie noch mehr zu diktieren, Sir?»
    «Ja, aber erst später. Ich sage Ihnen dann Bescheid.»
    Nachdem sie gegangen war, kehrten seine Gedanken zurück in die Vergangenheit — aber nur noch für einen Augenblick. Es brachte nichts, und sowieso war mehr nicht zu erinnern; er hatte von Wendy nie wieder etwas gehört. Wenn sie inzwischen gestorben war — er hätte es nicht erfahren. Aber sie würde schon noch am Leben sein. Jetzt, in dieser Minute war sie irgendwo, tat irgend etwas, und war doch für ihn so unerreichbar, als wäre sie tatsächlich bereits gestorben. Leise sprach er zwei Zeilen aus Hardys Gedicht Wessex Heights vor sich hin: «Zeit heilt die Herzen von der Zärtlichkeit — und jetzt kann ich sie gehen lassen.»
    Er lächelte bitter. Auf ihn und seine Gefühle trafen diese Zeilen nicht zu und hatten im übrigen, aber vielleicht war das ja auch eine Art von Trost, auch für Hardy nie gegolten.
    Auch von seinen Prüfern, die damals Zeugen seines rühmlosen Abgangs geworden waren, hatte Morse, seit er damals Oxford verlassen hatte, nie wieder etwas gehört, doch konnte er sich noch sehr genau an ihre Namen erinnern, so wie sie damals an jenem furchtbaren Tag vor etwa dreißig Jahren unter der Liste mit den Examensergebnissen gestanden hatten.

    Wells (Vorsitzender)
    Styler
    Stockton
    Sherwin-White
    Austin
    Browne-Smith

    Zu Beginn der folgenden Woche erinnerte sich Morse plötzlich wieder des Versprechens, das er dem Rektor gegeben hatte, und rief im Lonsdale College an, um sich nach Browne-Smith zu erkundigen. Er verlangte zunächst den Stellvertretenden Rektor, der jedoch genau wie der Rektor verreist war, dann den Quästor, der

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