Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Das Rätsel der dritten Meile

Das Rätsel der dritten Meile

Titel: Das Rätsel der dritten Meile Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Colin Dexter
Vom Netzwerk:
dann?»
    «Nun, Browne-Smith war ja Junggeselle, genau wie Sie, Sir, und da nehme ich an, daß ihn das Angebot, das ihm da gemacht wurde, sehr gereizt hat und daß er deshalb eingewilligt hat.»
    «Meinen Sie wirklich?»
    Lewis nickte. «Ich denke schon. Nun, und dann wird er die Erfahrung gemacht haben, daß diese Leute in Soho ganz schön harte Burschen sein können...»
    «Sie müssen sich abgewöhnen, Ihre Sätze immer mit nun anzufangen, Lewis», bemerkte Morse mit mildem Tadel.
    «Meine Sicht des Falles scheint Sie nicht zu überzeugen, Sir?» sagte Lewis etwas gekränkt.
    «Nein, um ehrlich zu sein, das Ganze klingt mir etwas dünn. Dieser Riesenaufwand, nur um ein paar läppische Prüfungsergebnisse vor der Zeit zu erfahren...»
    «Ich glaube, da können Sie nicht mitreden, Sir», sagte Lewis fest. «Sie haben keine Kinder, und da können Sie sich nicht vorstellen, was man aussteht, während man auf so ein Prüfungsergebnis wartet. Ich weiß noch sehr genau, wie ich mitgezittert habe mit meinen beiden Mädchen — erst der älteren, dann der jüngeren — , das erste Mal, als es um die Aufnahmeprüfung zur Oberschule ging und dann später wieder beim Abschlußexamen, und wie wir alle dagesessen und auf das Klappern des Briefkastens gehorcht und wie wir dann, als der Brief endlich da war, ein Stoßgebet zum Himmel geschickt haben, alles möge gutgegangen sein. Nichts zerrt so sehr an den Nerven wie Warten, Sir! Und es gibt Momente, da würde man alles darum geben, endlich zu wissen, wie es ausgegangen ist, damit endlich diese verdammte Warterei aufhört. Und die ganze Zeit über denkt man daran, daß es einige Leute gibt, die es schon wissen — die Sekretärin, die den Brief tippt, derjenige, der ihn unterschreibt... Ich will Ihnen ganz ehrlich sagen, Sir: wenn ich jemals irgendeine Möglichkeit dazu gesehen hätte, ich weiß nicht, ob ich nicht auch versucht hätte, das Ergebnis früher zu erfahren.»
    Morse sah den Sergeant betroffen an. Unter diesem Blickwinkel hatte er Prüfungen bisher allerdings noch nie betrachtet. Möglicherweise hatte Lewis ja doch recht... «Warum rufen wir den Vater von Jane Summers nicht einfach an?» sagte er. «Es fällt mir zwar immer noch schwer, mir vorzustellen, daß er wirklich einen solchen Brief geschrieben haben soll, aber...»
    «Der Vater von Jane Summers ist tot», unterbrach ihn Lewis. «Beide Eltern sind vor sechs Jahren bei einem Autounfall ums Leben gekommen. Ich habe mich im College nach ihren Familienverhältnissen erkundigt — die Sekretärin war sehr hilfsbereit.»
    «Ja, wenn das so ist...» sagte Morse und blickte plötzlich etwas ratlos. «Ich habe den Eindruck, Lewis, ich hinke mit meinen Ideen immer etwas hinterher, Sie sind mir offenbar Meilen voraus...»
    «Nein, nein, Sir, ganz und gar nicht», sagte Lewis tröstend. «Und ich denke, wir sollten tatsächlich in der eben von Ihnen vorgeschlagenen Richtung nachforschen. Sie kann, als ihre Eltern starben, noch nicht volljährig gewesen sein, und das heißt, daß es irgend jemanden gegeben haben muß, der damals die Verantwortung für sie übernommen hat. Vermutlich ist ein Vormund für sie bestellt worden, vielleicht ein Onkel...»
    In Morse’ Augen leuchtete plötzlich etwas auf. Er öffnete eine Schublade seines Schreibtisches, zog den von ihm rekonstruierten Brief hervor und begann ihn Satz für Satz noch einmal gründlich zu studieren. Ab und zu murmelte er etwas vor sich hin, das Lewis als Zustimmung interpretierte. Schließlich hob er den Kopf und strahlte den Sergeant an: «Sie sind ein Genie, Lewis!»
    Lewis hätte gern gewußt, wieso; doch Morse gab keine weiteren Erklärungen ab.
    Statt dessen kam er noch einmal auf das zu sprechen, was Lewis im Prüfungsamt ermittelt hatte. «Sagten Sie nicht, daß selbst der Prüfungsvorsitzende erst einen Tag vorher wissen konnte, wie in jedem einzelnen Fall das Ergebnis aussehen würde?»
    «Ja, das stimmt, Sir.»
    «Aber dann macht ja das, was Sie da eben entwickelt haben, gar keinen Sinn...»
    «Doch, doch», sagte Lewis, «unter einer Voraussetzung — daß sie nämlich mit Abstand die Beste und ihre Eins von Anfang an völlig unangefochten war.»
    «Hm. Wir könnten den Prüfungsvorsitzenden anrufen und uns erkundigen, ob Ihre Annahme stimmt.»
    «Das habe ich bereits getan, Sir.»
    Morse fühlte sich auf einmal sehr beschwingt. Das Penicillin hatte Wunder gewirkt, er wußte schon gar nicht mehr, daß er einmal Zahnschmerzen gehabt hatte, und die

Weitere Kostenlose Bücher