Das Rätsel der dritten Meile
hinter ihm die Tür.
Morse kehrte an seinen Schreibtisch zurück und dachte darüber nach, was er gehört hatte. Nach einer Weile griff er zum Telefon, wählte die Nummer der Bodleian Library und ließ sich mit dem Direktor der medizinischen Abteilung verbinden. «Ich benötige da ein paar Informationen bezüglich des Krankheitsbildes bei Hirntumoren...»
Der Direktor versprach, sich sofort darum zu kümmern und rief Morse eine Viertelstunde später zurück.
«Ich habe das Standardwerk zu dem Thema heraussuchen lassen, Chief Inspector. Dr. J. P. F. Coole: Hirnkarzinome. Die wichtigsten Stellen habe ich schon nachgesehen... hier in Kapitel sechs zum Beispiel: »
«Vielen Dank», sagte Morse, «wenn ich Sie hier einmal unterbrechen darf... Habe ich eben richtig verstanden, daß es Hirntumore gibt, die auf das Gehirn beschränkt bleiben, also keine Metastasen bilden?»
«Ja, ganz genau.»
«Schön, das habe ich also verstanden. Jetzt habe ich aber noch eine weitere Frage: Wäre es denkbar, daß ein solcher Hirntumor bei der erkrankten Person eine Art, nun sagen wir einmal, Persönlichkeitsveränderung bewirkt? Ich meine, daß diese erkrankte Person auf einmal etwas tut, was ganz und gar nicht im Einklang mit ihrem sonstigen Charakter steht.»
«Aber ja!» rief der Direktor und schien hocherfreut über Morse’ Frage. «Steht alles in Kapitel sieben. Ich kann Ihnen die entsprechende Stelle ja gerade mal vorlesen...»
«Also das ist, glaube ich, nicht nötig», sagte Morse. «Es reicht mir, wenn Sie mir aus Ihrer Kenntnis bestätigen, daß eine solche Veränderung durchaus in Betracht kommt.»
«Hm, ja, das kommt sie, in der Tat. Ich kann mich selbst an ein paar Fälle erinnern, da haben sich die Patienten zum Teil plötzlich in höchst merkwürdiger Weise aufgeführt und Dinge getan, die ihnen sonst nicht im Traum eingefallen wären.»
«Ich habe für meine Frage einen ganz bestimmten Grund. Es geht um einen Mann, von dem ich weiß, daß er an einem Hirntumor erkrankt ist. Er ist Zeit seines Lebens immer ein Muster an Korrektheit und Zuverlässigkeit gewesen, und nun scheint er sich, von einem Tag auf den anderen, sozusagen...»
«Ja, es kommt immer ganz plötzlich. Das ist typisch für solche Fälle. Wenn Sie das interessiert, kann ich Ihnen gern ein paar Beispiele dafür geben. Olive Mainwearing aus Manchester etwa...»
«Nein, nein, vielen Dank! Ich habe Ihre Zeit schon viel zu lange in Anspruch genommen. Ich hoffe, ich darf Sie, wenn wir uns nächstesmal im King’s Arms treffen, zu einem Drink einladen?»
Die beiden Männer verabschiedeten sich. Morse legte den Hörer auf und lehnte sich zufrieden in seinem Schreibtischsessel zurück. Durch den sich lichtenden Nebel hindurch glaubte er in der Ferne bereits die hellen Konturen des Horizonts ausmachen zu können.
Sechzehntes Kapitel
Donnerstag, 24. Juli
Lewis wirkt wieder einmal nichtsahnend als Katalysator von Morse’ Ideen.
Als Lewis eine halbe Stunde später Morse’ Büro betrat, fand er den Chief Inspector an seinem Schreibtisch sitzend, die Augen starr auf die Wand gegenüber gerichtet. Jeder andere hätte nach einem Blick auf Morse die Tür geräuschlos wieder hinter sich geschlossen, doch nicht so Lewis. Wenn er, was zugegebenermaßen nicht sehr häufig vorkam, über irgend etwas in Begeisterung geraten war, gab es kein Halten mehr, dann mußte er sich mitteilen.
«Die Sachen sind auf der Maschine von Browne-Smith getippt worden, Sir», sagte er. «Ganz eindeutig — ich habe selber auf der Maschine noch eine Schriftprobe gemacht», fügte er mit kaum verhohlenem Stolz hinzu.
Morse löste widerstrebend seinen Blick von der Wand und drehte sich dem Sergeant zu.
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