Das Rätsel der dritten Meile
daß der Tote einen anderen als den eigenen Anzug trägt.»
Morse saß stumm da und sah seinen Sergeant mit großen Augen an. Dieser schlagenden Argumentation hatte er nichts hinzuzufugen.
«Wissen Sie, Lewis», sagte er nach einer Weile anerkennend, «es heißt doch immer, daß die Leistung des Gehirns, wenn man das dreißigste Lebensjahr erst einmal hinter sich hat, deutlich abnehmen soll; aber wenn ich Sie mir so ansehe, dann scheint mir, Sie werden von Tag zu Tag besser!»
Lewis lehnte sich mit glücklichem Lächeln zurück. «Das macht die Zusammenarbeit mit Ihnen, Sir», sagte er bescheiden.
Aber Morse hörte ihn schon nicht mehr; er war mit seinen Gedanken bereits ganz woanders. Blicklos starrte er auf den öden Hof des Präsidiums, und erst nach etlichen Minuten — Lewis hatte inzwischen Zeit gefunden, fast das gesamte Gutachten des Pathologen noch einmal zu überfliegen — tauchte er aus seiner Versunkenheit auf und wandte sich Lewis wieder zu.
«Das Leben ist schon traurig, wenn man es recht betrachtet, Lewis», sagte er melancholisch. «Das einzige, was man sicher weiß, ist, daß jedes Leben irgendwann endet. Und das ist so unumstößlich, daß selbst mein Freund Max, der alte Skeptiker, dies wohl kaum zu leugnen wagte. Tja, und dann... Der Thaten Herlikeit mus wie eyn Traum vergehen ...»
«Ich verstehe nicht ganz...» sagte Lewis verwirrt.
«Vor dem Tod sind wir alle gleich, Lewis, und es gibt keinen von uns, der ihm entgehen kann... Es gibt keine Ausnahme.»
« Eine Ausnahme schon, denke ich», sagte Lewis still.
«Sie glauben daran?»
«Ja.»
«Hm.»
«Wie sind Sie eigentlich auf dieses Thema gekommen, Sir?» fragte Lewis.
«Auf Sterben und Tod? Ich habe an Browne-Smith gedacht und daran, daß wir ihn alle für tot gehalten haben, während er in Wahrheit vermutlich noch am Leben ist, doch wie lange noch...?»
Vorhin hatte Lewis eine Weile geglaubt, Morse tatsächlich um eine Nasenlänge voraus zu sein, doch jetzt sah er, daß er sich getäuscht hatte. Wie immer war es Morse, der ihm voraus war, meilenweit voraus. Aber das war schon in Ordnung so, dachte er. Da würde er in Zukunft die Spekulationen und die Hypothesen eben wieder Morse überlassen.
Achtzehntes Kapitel
Freitag, 25. Juli
Morse und Lewis statten gemeinsam dem Lonsdale College einen Besuch ab, doch da Morse alsbald der Einladung eines der Großkopfeten Folge leistet, bleibt es Lewis überlassen, die Arbeit zutun.
Morse war sich bewußt, daß es an der Zeit war, endlich tätig zu werden. Da war zum Beispiel der Anzug des Toten zu untersuchen. Es war ja durchaus möglich, daß sich in einer der Taschen oder im Futter irgendeine winzige Kleinigkeit befand, die einen Hinweis auf den Mörder liefern konnte. Da war darüber hinaus dieser geheimnisvolle Fremde, dieser Mr. Gilbert, um den er sich kümmern mußte. Mr. Gilbert, der ungehindert Zutritt gehabt hatte zu dem Raum, in dem vermutlich sowohl die Notiz als auch der Brief getippt worden waren. Mr. Gilbert, der Chef eines Umzugsunternehmens, das wahrscheinlich gerade jetzt dabei war, die letzten Kisten aus ebendiesem Raum fortzuschaffen...Ja, es war wirklich Zeit, allerhöchste Zeit sogar, daß er etwas unternahm. Necesse erat digitos extrahere.
Morse gab sich wie immer, wenn er in einem Auto saß, mürrisch und wortkarg. Und so herrschte auch jetzt, während Lewis geschickt durch den dichten Verkehr steuerte — die St. Giles und die Cornmarket Street entlang, dann bei der großen Kreuzung mit dem alten Namen Carfax nach links und die High Street hinunter — im Wagen tiefes Schweigen. Am Eingang zum Lonsdale College saß derselbe junge Pedell, der auch schon bei Morse’ letztem Besuch dort Dienst getan hatte. Diesmal jedoch weigerte er sich standhaft, irgendwelche Schlüssel herauszugeben, ohne vorher höheren Ortes um Genehmigung nachgesucht zu haben. Achselzuckend ließ Morse sich das Telefon geben. Er war gerade dabei, die Nummer des Quästors zu wählen, als von draußen ein Mann hereinkam, den er kannte. Es war der Stellvertretende Rektor.
Zehn Minuten später erklomm Lewis, zwei Schlüssel in der Hand, ächzend die Stufen zum Aufgang , während Morse sich in den Räumen des Vize genüßlich in einen tiefen Sessel sinken ließ und dankbar akzeptierte, daß dieser ihm — obwohl sie sich darin einig waren, daß es dafür ja eigentlich noch zu früh sei — ein Glas Sherry kredenzte.
«Nein», sagte der Stellvertretende Rektor, nachdem sich beide Männer eine
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