Das Rätsel der dritten Meile
Weile unterhalten hatten, Morse’ letzte Bemerkung aufnehmend, «nein, es ist in der Tat eine höchst unerfreuliche Geschichte — aber so etwas soll ja häufiger vorkommen. Die zwei waren sich von Anfang an unsympathisch und wären wohl nirgendwo miteinander klargekommen. Bis vor fünf Jahren allerdings wahrten sie wenigstens nach außen hin den Anschein der Höflichkeit und hatten ihre wechselseitige Antipathie einigermaßen unter Kontrolle. Danach...»
«Daß sie nicht mehr miteinander reden, dauert jetzt also fünf Jahre?»
«Ja.»
«Aber dann muß doch damals irgend etwas vorgefallen sein...»
«Ja, sicher. Es ist übrigens kein Geheimnis, wir alle hier, mit Ausnahme zweier jüngerer Kollegen vielleicht, die erst später gekommen sind, haben es ja mitbekommen.»
«Wenn Sie mir davon Näheres berichten könnten...»
Der Vize nickte. «Die Zuspitzung ihres Verhältnisses hat zu tun mit der damals stattfindenden Rektorwahl. Bezüglich dieser Wahl gibt es bei uns im College eine Vereinbarung: der Anwärter auf dieses Amt gilt als gewählt, wenn er von den acht möglichen Stimmen der Professoren wenigstens sechs auf sich vereinigt und — ganz wesentlich — keine Nein-Stimme erhält. Nun soll zwar das Abstimmungsergebnis eigentlich im Detail geheim bleiben, aber trotzdem sickerte bald durch, daß Browne-Smith, der sich zur Wahl gestellt hatte, zwar die sechs nötigen Ja-Stimmen hatte, jedoch daran scheiterte, daß irgend jemand eine Nein-Stimme abgegeben hatte. In einem zweiten Wahlgang trat darauf Westerby an. Doch auch ihm gelang es nicht, gewählt zu werden — dreimal dürfen Sie raten, warum.»
«Weil auch er eine Nein-Stimme bekam?»
«Ja, genau. Erst der dritte Wahlgang war schließlich erfolgreich; durch ihn gelangte der jetzige Rektor ins Amt.»
«Zum Rektor gewählt zu werden ist eine große Auszeichnung, oder?» sagte Morse und stutzte einen Moment, bis ihm einfiel, daß er dieselbe Frage fast wörtlich auch Andrews gestellt hatte.
«Es gibt manche, die eine Menge darum geben würden, ja.»
«Sie auch?»
Der Stellvertretende Rektor lächelte etwas spöttisch. «Das Amt des Rektors darf nur von einem Laien ausgeübt werden. Da ich dem geistlichen Stand angehöre, komme ich dafür also nicht in Frage.»
«Ah so», sagte Morse etwas enttäuscht. «Wenn Sie erlauben, würde ich gern noch einmal auf Browne-Smith zurückkommen. Vielleicht könnten Sie mir ein bißchen über sein Privatleben erzählen...?»
«Zum Beispiel?» Er warf Morse einen scharfen, nicht besonders freundlichen Blick zu, und dieser begann sich zu fragen, ob es nicht überhaupt unrealistisch sei zu erwarten, daß ein in sich geschlossener kleiner Kosmos, wie es ein College war, einem Außenstehenden einen mehr als nur oberflächlichen Einblick in seine inneren Angelegenheiten gewähren würde.
«Ich wüßte zum Beispiel gern, wie es mit seiner Gesundheit steht.»
Wieder ein scharfer Blick und gleichzeitig ein Nicken, als komme die Frage nicht unerwartet. «Er war ein sehr kranker Mann, Chief Inspector, wie Sie, denke ich, sehr wohl wissen — zumindest seit gestern. Andrews meinte im nachhinein, seine Mitteilung sei wohl doch eine Neuigkeit für Sie gewesen.»
«Wie lange wissen Sie es denn schon?» fragte Morse schnell, um abzulenken.
«Seit ungefähr drei Wochen. Der Rektor hat Andrews und mich eines Abends nach dem Essen zu sich gebeten, um es uns zu sagen. Wir sollten jedoch absolutes Stillschweigen darüber bewahren. Er hat uns auch nur deshalb davon informiert, weil es wegen der irgendwann notwendig werdenden Umverteilungen von Browne-Smiths Lehrverpflichtungen unumgänglich war.»
«Hat der Rektor irgendeine Andeutung darüber gemacht, wie lange Browne-Smith seiner Meinung nach noch...?»
«Höchstens bis Ende des Frühjahrstrimesters, eher kürzer.»
«Hm.»
«Offen gestanden wundert mich Ihre Frage ein bißchen, Chief Inspector. Spekulationen über den möglichen Zeitpunkt von Browne-Smiths Ableben müssen Ihnen doch vollkommen irrelevant erscheinen. Wenn ich recht gehört habe, gehen Sie doch davon aus, er sei bereits tot.»
«Was hat Andrews Ihnen sonst noch erzählt?»
«Alles Wesentliche, nehme ich an. Ich hoffe, Sie haben nichts dagegen?»
Morse fühlte sich in der Gesellschaft des Stellvertretenden Rektors plötzlich sehr unwohl. Um das Gesicht zu wahren, stellte er noch ein paar belanglose Fragen, dann stand er auf. «Werden Sie eigentlich auch noch in die Ferien fahren?»
«Ja, sobald der Rektor
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