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Das Rätsel der dritten Meile

Das Rätsel der dritten Meile

Titel: Das Rätsel der dritten Meile Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Colin Dexter
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jenen grellroten Schal, so als hätte er Zahnschmerzen — oder als wolle er verhindern, daß ihm irgend jemand zu genau ins Gesicht sehe. Konnte es sein, daß er mich erkannt hatte und nicht wollte, daß ich umgekehrt auch ihn erkannte? Er konnte ja nicht wissen, daß dies schon längst geschehen war. Es konnte sein, konnte aber auch nicht sein, die Chancen standen fünfzig zu fünfzig. Als dann aber der Brief eintraf, jener Brief, sank die Waagschale doch zugunsten ersterer Annahme. Bleiben wir also bei dem Brief oder genauer gesagt, bei dem, was sich daraus ergab.
    Ich hatte, wie ich schon sagte, ziemlich schnell meine Bereitschaft signalisiert, auf den Handel einzugehen, und erhielt demzufolge eine «Einladung», die ich nur zu gern annahm. Und warum auch nicht? Ich war nie verheiratet, die Genüsse ehelicher Bettgemeinschaft (wenn es sie denn gibt) sind mir nicht beschieden gewesen, so daß ich jetzt im Alter durchaus so etwas wie Nachholbedarf verspüre. Und wie ich oben schon sagte, kein Mann — und sei er noch so alt — wird jemals völlig immun werden gegen sexuelle Verlockungen.
    Doch ich bin vom Thema abgewichen; ich wollte von der Einladung berichten. Ich fuhr also nach London und ging durch die Türen, die sich eine nach der anderen mir so umstandslos öffneten. Diese Beschreibung läßt vielleicht auf eine gewisse Arglosigkeit meinerseits schließen, doch dem war nicht so; ich war durchaus kein auf den Leim gegangener Gimpel. Ich wußte bei jedem Schritt genau, was ich tat. Von dem, was sich abspielte, nachdem sich — um im Bild zu bleiben — die Türen hinter mir wieder geschlossen hatten, soll hier nicht näher die Rede sein, obwohl es sehr viel weniger vulgär zuging, als ich angenommen hatte. Alles war sehr selbstverständlich und natürlich. Das erstaunte mich um so mehr, als ich mir darüber im klaren war, daß das Ganze nichts als ein (wie ich zugeben muß, sorgfältig geprobtes) Stück Theater war. Ich bemühte mich nach Kräften, der mir zugedachten Rolle gerecht zu werden, und glaube, dies gelang mir auch; obwohl ich zwischendurch einmal in der Gefahr war, das, was man meinen «Text» nennen könnte, zu vergessen. Aber vielleicht wäre das jedem anderen auch passiert, wenn er sich unvermutet einer so bezaubernden und verführerischen Frau gegenübergesehen hätte. Wunderbarer weise hatte ich mir jedoch noch einen Rest von klarem Verstand bewahrt und gab mich nicht völlig preis — oder anders gesagt: ich ließ mich von ihr nicht entwaffnen. Und das ist wortwörtlich gemeint, denn in der Tasche meines Jacketts trug ich einen Revolver, den ich aus meinen Tagen bei der Armee in meine zivile Existenz hinübergerettet hatte.
    Aber ich glaube, ich sollte, bevor ich weitererzähle, noch einmal einen Schritt zurückgehen; denn ich nehme an, daß Sie doch neugierig sein werden und wissen wollen, wer denn nun der Mann war, der mir im Lonsdale College über den Weg lief. Sie sollen es erfahren, auch wenn das bedeutet, daß ich Ihnen von jenem Ereignis in meinem Leben erzählen muß, das zu vergessen ich mich all die Jahre bemüht habe. Aber es hilft nichts, sei es drum!
    Ich war damals ein junger Offizier und ziemlich frisch nach Nordafrika abkommandiert. Wenn ich heute an diese Zeit zurückdenke, so meine ich, daß ich eigentlich ein guter Offizier war. Zum einen war ich überzeugt von der Sache — dieser eine spezielle Krieg war meines Erachtens wirklich so etwas wie ein «gerechter Krieg» - zum andern lag es mir von jeher, Verantwortung zu übernehmen. Zwar achtete ich streng auf Disziplin, darauf, daß alle Befehle umgehend und sorgfältig ausgeführt wurden, ich kümmerte mich aber auch um meine Leute und versuchte, die harten Bedingungen des Lebens an der Front, soweit es in meinen Kräften stand, erträglicher zu machen. Die ganze Zeit über verließ mich nicht eine unbestimmte Ahnung, daß ich, sollte ich eines Tages in die Lage kommen, meine persönliche Tapferkeit — «persönlich» gemeint im Gegensatz zu jener anderen, soldatischen Tapferkeit, die keinerlei eigene Willensentscheidung erfordert — unter Beweis stellen zu müssen, versagen könnte. Ich wußte damals bereits instinktiv, ohne daß ich es schon erfahren hätte, daß ich angesichts physischer Gefahr ein Feigling sein würde. Nun, dieser Moment kam. Er kam, als inmitten der Schlacht einer meiner Soldaten mich anflehte, ihm zu helfen, das Leben eines seiner Kameraden zu retten, der, hilflos in seinem brennenden Panzer

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