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Das Rätsel der dritten Meile

Das Rätsel der dritten Meile

Titel: Das Rätsel der dritten Meile Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Colin Dexter
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eingeschlossen, ohne unser Eingreifen zum Tode verdammt war. Doch die helfende Tat hätte mich mein Leben kosten können, und so verweigerte ich mich. Einmal, ein einziges Mal hätte ich die Chance gehabt, das absolut Einfache und Richtige zu tun, doch ich ergriff sie nicht.
    Aber machen wir wieder einen Schritt nach vorn — in die unmittelbare Vergangenheit. Wie ich schon sagte, das Ganze war ein Stück Theater. Wenn ich es nicht schon vorher gewußt hätte, so hätte ich es spätestens gemerkt, als ich sah, daß es von allen Getränken, unter denen die Gäste, oder soll ich besser sagen Kunden, die Auswahl hatten, jeweils zwei Flaschen gab — die eine angebrochen, die andere noch voll. Und warum wurde für den ersten Drink, statt ihn aus der bereits angebrochenen Flasche einzuschenken, die neue aufgemacht? Ich wußte keine Erklärung, aber ich zog daraus den Schluß, daß es auf jeden Fall besser sei, die Augen offenzuhalten. Und tatsächlich gab es Hinweise zuhauf, daß hier ein Bluff inszeniert wurde. Nehmen Sie nur die Frau, diese zugegebenermaßen bezaubernde Frau, die mich, wie soll ich es nennen, «betreute». Ihr imitierter französischer Akzent hätte jeden Direktor eines noch so schäbigen kleinen Vorstadttheaters veranlaßt, sie sofort nach dem Vorsprechen wieder vor die Tür zu setzen. Diese Frau war sowenig eine Französin, wie ich ein Chinese bin. Aber, und ich muß sagen, das war dann doch schon eine Überraschung, ich glaube, daß sie nicht nur keine echte Französin, sondern daß sie noch nicht einmal eine echte Hure war. Wie ich darauf komme? Nun, im Laufe unseres Beisammenseins holte sie irgendwann ihre Handtasche, um etwas daraus hervorzukramen, und es zeigte sich, daß diese Handtasche ein mindestens zwanzig Jahre altes abgewetztes und ausgebeultes Ungetüm war. Obwohl ich in derlei Sachen nicht über besonders viel Erfahrung verfuge, glaube selbst ich zu wissen, daß eine richtige Hure niemals mit einer solchen Tasche herumlaufen würde. Aber damit der Merkwürdigkeiten noch nicht genug, trug diese Handtasche auch noch die Initialen «W. S.», wohingegen die alte Kupplerin, die mich auf das Zimmer geführt hatte, die Frau mit «Yvonne» angesprochen hatte. Sie sehen, mir fielen eine Menge Dinge auf, doch ich machte mir keine allzu großen Sorgen. Sollte die Situation sich zuspitzen, vielleicht gar bedrohlich werden, so hatte ich ja für alle Fälle meinen Revolver. Als die Frau mir den zweiten Drink einschenkte, und zwar diesmal aus der bereits angebrochenen Flasche, fiel es mir wie Schuppen von den Augen, und ich wußte jetzt endlich, was man mit mir vorhatte. Ich bat sie, die Vorhänge ein wenig zu öffnen, und während sie mir den Rücken zudrehte, schüttete ich mir den (ohne Zweifel präparierten) Inhalt des Glases über die Hose in der Hoffnung, daß die dunklen Flecken an delikater Stelle den Eindruck erwecken würden, als hätte ich nicht mehr an mich halten können — was auch gar nicht so verwunderlich gewesen wäre, denn die Frau präsentierte sich zu diesem Zeitpunkt bereits in verführerischer Nacktheit, und ich war dementsprechend erregt.
    Und was weiter? Nun, ich spielte meine Rolle, diesmal allerdings eine Rolle, die ich mir selbst ausgesucht hatte. Ich versuchte, ruhig und gleichmäßig zu atmen, so als läge ich in tiefem Schlaf. Die Frau trat kurz zu mir, wohl um zu prüfen, ob das Mittel tatsächlich seine Wirkung getan hatte, dann verließ sie das Zimmer. Ich hörte sie draußen vor der Tür mit jemandem flüstern, dann wurde es still. Kurze Zeit darauf vernahm ich leise Schritte. Jemand hatte den Raum betreten. Hier breche ich ab; ich denke, ich habe Ihnen nun genug erzählt.
    Das Tippen ermüdet mich über Gebühr, aber ich bin noch nicht fertig mit dem, was ich Ihnen mitteilen wollte.
    Denn bevor ich schließe, sollen Sie doch auf jeden Fall noch erfahren, daß dieser Brief nicht nur der Amtsperson, sondern in viel größerem Maße noch dem Menschen Morse gilt, der vor vielen Jahren in Oxford mein Student war. Damals waren Sie ein Narr, Morse, der nicht wußte, was er seiner Begabung schuldig war. Ich war einer von denen, die das zweifelhafte Vergnügen hatten, Ihre Abschlußklausur in Klassischer Philologie zu beurteilen. Und obwohl die Klausur (wie ich mich noch gut erinnere) nur allzu deutlich Ihren unzulänglichen Wissensstand widerspiegelte, fanden sich selbst hier noch Gedankensplitter, die verrieten, daß Sie das Zeug zu Größerem gehabt hätten. Nun, Sie

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