Das Rätsel der dritten Meile
mußten Oxford verlassen und wählten bald darauf eine andere Laufbahn, in der Sie sich, wie ich hörte, durchaus einen Namen gemacht haben. Es ist übrigens dieser Ihr Erfolg, dem Sie meinen heutigen Brief verdanken — ich wollte mich mit einem ebenbürtigen Geist messen. Um nichts anderes nämlich geht es. Warum sonst hätte ich dafür sorgen sollen, daß man die Leiche bei Thrupp fand — sozusagen vor Ihrer Hintertür. Sie werden inzwischen, nehme ich an, herausgefunden haben, warum ich den Kopf und die Hände nicht an der Leiche lassen konnte — weil Sie sonst nämlich sofort gewußt hätten, daß es sich bei dem Toten nicht um mich handelte. So aber mußten Sie Ihren Verstand anstrengen, und das zu erreichen war meine Absicht; denn (in diesem Punkt sollten Sie mir Glauben schenken) um diesen Fall zu lösen, muß Ihr Verstand scharf sein wie das Schwert des Achilles. Ich hoffe, Sie begreifen die vor Ihnen liegende Aufgabe als eine Herausforderung und als Möglichkeit, Ihre Begabung zu brillantem Denken, die sich damals nur andeutete, unter Beweis zu stellen und damit nach dreißig Jahren (oder sind es schon mehr?) eine Scharte auszuwetzen. Denn sollten Sie den Fall lösen, so erhalten Sie von mir (wenn auch wohl posthum) eine Eins zuerkannt.
Sie werden keinen weiteren Brief von mir bekommen, und ich gebe Ihnen den guten Rat, gar nicht erst zu versuchen, mich aufzuspüren. Sie würden mich doch nicht finden.
Post Scriptum. Ich habe mir gerade den Brief noch einmal durchgelesen und möchte mich dafür entschuldigen, daß ich so oft das stilistisch höchst fragwürdige Mittel der Klammer eingesetzt habe. (Bernard Levin muß mich wohl doch stärker beeinflußt haben, als mir bewußt war.)
Dreiundzwanzigstes
Kapitel Montag, 28.Juli
Morse und Lewis können sich über einen Mangel an Spuren nicht beklagen und beschließen, arbeitsteilig vorzugehen.
Der Brief von Browne-Smith enthielt so viele Hinweise, denen nachzugehen lohnend erschien, daß Morse und Lewis, um sich eine Übersicht zu verschaffen, zunächst einmal vier große Fragenkomplexe formulierten.
1. Was war wirklich geschehen damals in Nordafrika, als Browne-Smith angesichts seiner ersten und wohl wichtigsten Bewährungsprobe so jämmerlich versagt hatte.
2. Wie paßte Westerby (dessen Name in letzter Zeit immer wieder auftauchte) in das zunehmend komplexer werdende Bild?
3. Wer hatte das Zimmer betreten, nachdem Yvonne gegangen war?
4. Wer war der Tote? (Für Morse immer noch die wichtigste Frage.)
Die einzelnen Komplexe waren nicht streng voneinander zu trennen; an einigen Punkten würden sie sich bestimmt überschneiden, trotzdem schien es Morse und Lewis sinnvoll, wenn jeder für einen oder zwei Tage seine eigenen Ermittlungen betrieb. Sie kamen überein, daß Lewis sich um die ersten beiden und Morse um die zwei letzten kümmern sollte.
So kam es, daß der Sergeant seinen Vormittag hauptsächlich am Telefon verbrachte. Er sprach mit Beamten des Heeres- und des Verteidigungsministeriums, mit einem Offizier im Hauptquartier des Wiltshire-Regiments sowie mit dem Chef einer Einheit der Territorialstreitkräfte in Devizes (Wiltshire). Zwar war keiner seiner Gesprächspartner besonders auskunftsfreudig, dennoch hatte er gegen Mittag eine Fülle von Informationen, von denen sich viele zwar später als überflüssig, einige jedoch auch als nützlich erweisen sollten. Seine erste Nachfrage hatte Browne-Smith gegolten. Er hatte in Erfahrung gebracht, daß dieser zunächst als Hauptmann, später als Major bei den Royal Wiltshires gedient hatte, 1941 an die Front nach Nordafrika geschickt worden war, dort bei El Alamein eine Verwundung erlitten hatte und nach seiner Wiederherstellung bis zum Ende des Krieges in Italien gekämpft hatte. Anfang 1945 war er mit dem MC, dem Militärverdienstkreuz ausgezeichnet worden.
Danach hatte er sich bemüht, Informationen über Gilbert zu bekommen. Es hatte, wie er nun wußte, drei Brüder Gilbert gegeben: Albert, Alfred und John. Sie alle hatten in Nordafrika an den Kämpfen von El Alamein teilgenommen. Doch während Albert und Alfred zwar verwundet worden waren, den Krieg aber überlebt hatten, war der dritte Bruder, der jüngste der drei, umgekommen.
«Ist das alles?» hatte Lewis gefragt.
«Ja, das ist alles», war die knappe Antwort gewesen.
Lewis’ Instinkt sagte ihm, daß das nicht stimmte. Von der Ortsgruppe Swindon des Britischen Frontkämpferverbandes erhielt er die Adresse eines
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