Das Rätsel der dritten Meile
Strich. Heute war so ein Tag; und so beschloß er auf eigene Faust und aus keinem anderen Grund, als sich halbwegs sinnvoll zu beschäftigen, hinauszufahren nach Thrupp. Schaden konnte es ja schließlich nichts.
Er trank im Boat Inn von Thrupp ein kleines Bier und ging dann das Ufersträßchen entlang in Richtung Aubrey’s Bridge. Weit und breit war heute kein Angler zu sehen, und so schweifte sein Blick nach links hinüber, an der Reihe schmucker eingeschossiger Häuschen entlang. Ihm fiel auf, daß in fast jedem der Vorgärten eine Verbotstafel stand. Der Text war überall gleichlautend und besagte, daß es fremden Booten nicht gestattet sei, an diesem Uferabschnitt festzumachen. Die Anwohner schienen großen Wert darauf zu legen, ungestört zu bleiben; manche besaßen vermutlich auch selbst ein Boot und mochten es als eine Art ungeschriebenes Recht ansehen, dieses direkt gegenüber ihrem Haus zu vertäuen.
Und plötzlich kam Lewis eine Idee... Da die Leute hier den Uferstreifen auf der anderen Seite der kleinen Straße offenbar quasi als Privateigentum betrachteten, würde er vermutlich unter mehr oder weniger ständiger Beobachtung stehen, und die Straße selbst sicher auch. Wenn also, wie man doch annehmen mußte, der Mörder sein Opfer mit dem Wagen zum Kanal geschafft hatte, dann mußte doch irgend jemand der Anwohner diesen Wagen bemerkt haben! Und doch hatte er bei seinen Nachfragen in diesen Häusern an jenem Mittwoch, als die Leiche aus dem Kanal geborgen worden war, nur negative Antworten erhalten. Allerdings hatte er damals auch nicht überall die Bewohner angetroffen. Die Leute waren, wie ihm die Nachbarn gesagt hatten, mit dem Boot unterwegs oder zum Einkaufen nach Oxford. Und einige der Häuser standen ohnehin während der Woche leer, da ihre Besitzer nur das Wochenende dort verbrachten.
Lewis hatte jetzt die Höhe von Aubrey’s Bridge erreicht und blieb stehen. Minutenlang starrte er auf die Stelle, an der man die Leiche gefunden hatte, ohne daß ihm ein erhellender Gedanke gekommen wäre. Schließlich zuckte er die Achseln und machte sich auf den Rückweg. Wieder musterte er die Häuschen, deren Bewohner in der entscheidenden Stunde alle taub und blind gewesen sein mußten, als er plötzlich vor einem von ihnen ein Schild entdeckte mit der Aufschrift Zum Verkauf. Bis zu seiner Pensionierung war es nicht mehr allzu lange hin, und die Frau sprach schon seit Jahren davon, daß man, wenn er im Ruhestand sei, endlich aufs Land ziehen könne. Ruhestand! Eine plötzliche Eingebung ließ sein Herz schneller schlagen. Er trat einen Schritt vor und klopfte an die Tür. Drinnen blieb jedoch alles still. Beim Nachbarhaus hatte er mehr Glück. Ein sommersprossiger Junge von etwa zwölf Jahren öffnete ihm die Tür.
«Ist dein Vater oder deine Mutter da?»
«Nein.»
«Ich hätte da ein paar Fragen...» Lewis deutete auf das Haus nebenan.
«Der Preis ist zwanzigtausend», sagte der Junge.
«Das ist eine Menge Geld.»
«Das Dach ist undicht, deshalb hat es bisher auch keiner genommen», ließ sich der Junge zu einer etwas ausführlicheren Auskunft herbei.
Lewis nickte und betrachtete ihn aufmerksam. Was er wohl sonst noch alles wissen mochte? «Wohnst du hier?»
Der Junge nickte.
«Dann kanntest du doch sicher die Leute, die da gewohnt haben...»
«Keine Leute ...» sagte der Junge.
«Sondern?»
Der Junge blickte ihn mißtrauisch an und schwieg.
«Sieh mal», sagte Lewis in seinem väterlichsten Ton, «ich bin Polizist und...»
«Ich weiß, ich hab Sie gesehen an dem Tag, als sie hier den Toten aus dem Kanal gefischt haben.»
«Und wieso warst du da nicht in der Schule?»
«Weil ich Masern hatte. Darum!» sagte der Junge patzig.
«Hast du vielleicht zufällig etwas Verdächtiges bemerkt — ich meine, vorher?»
Der Junge schüttelte den Kopf.
«Nebenan haben also keine Leute gewohnt...?» bohrte Lewis noch einmal nach.
«Er hat doch nichts gemacht, oder?» Der Junge blickte ihn besorgt an.
«Nein, soviel ich weiß, nicht.»
«Ein Glück!» Der Junge atmete sichtlich auf. «Er ist nämlich schwer in Ordnung. Einmal hat er mich mitgenommen, zum Angeln an den King’s Weir, und wir haben einen Riesenhecht gefangen, ich und — Mr. Westerby.»
Auf dem Rückweg bog Lewis zweimal ab, ohne zu blinken, brauste bei Rot über eine Kreuzung und fuhr überhaupt in einer Weise, die man nicht anders als verkehrsgefährdend bezeichnen konnte. Der Grund dafür lag auf der Hand: er war mit seinen
Weitere Kostenlose Bücher