Das Rätsel der dritten Meile
vernachlässigten Eindruck. Verstohlen ließ er seinen Blick über die Fenster gleiten in der Hoffnung, jenes leichte, kaum wahrnehmbare Schwingen einer Gardine auszumachen, das ihm den heimlichen Beobachter dahinter verraten hätte. Doch es war keine Bewegung zu sehen. Vielleicht war wirklich niemand da. Er ging die Straße hinunter, betrat einen kleinen Park und setzte sich auf eine Bank. Ganz in der Nähe gurrten ein paar Tauben, sonst war alles ruhig. Sein Besuch in der Flamenco Bar kam ihm wieder in den Sinn. Unmittelbar nachdem er sie verlassen und heil wieder auf der Straße gestanden hatte, war ihm die Angst, die er drinnen ausgestanden hatte, nicht mehr als ein selbstironisches kleines Lächeln wert gewesen. Doch jetzt, mit etwas Abstand, mußte er zugeben, daß er ein nicht unbeträchtliches Risiko eingegangen war, sich unbegleitet dorthin zu begeben. Wenn er noch in der Bar selbst geblieben wäre... Aber er hatte ja unbedingt in den Raum hinter der Tür mit der Aufschrift Privat eindringen müssen.
Gleichsam prophylaktisch hatte er, kaum daß er seines Gegenübers, eines ungefähr dreißig Jahre alten Mannes ansichtig geworden war, zu jenem betont ruhigen, dabei anmaßenden Ton gegriffen, der signalisieren sollte, daß er gut daran tue, seine, Morse’ Autorität nicht in Zweifel zu ziehen.
«Du kannst es mir hier erzählen, oder auf der Polizeiwache, such es dir aus...»
«Was fällt Ihnen eigentlich ein, so mit mir zu reden? Wer, glauben Sie...?»
«Bevor wir unsere Unterhaltung fortsetzen, würde ich vorschlagen, daß du eine deiner Nutten hereinrufst — möglichst die mit den größten Titten — und ihr sagst, daß sie mir einen doppelten Scotch bringen soll, und zwar Bell’s. Auf Kosten des Hauses natürlich, ich bin schließlich hier, um dir zu helfen .»
«Ich wüßte nicht, wieso ich Hilfe nötig hätte. Aber vielleicht brauchen Sie bald Hilfe. Ich habe Freunde, die würden Ihnen mit Vergnügen die Fresse polieren. Ein Wort von mir...»
«Sagtest du Freunde ?»
«Ja, Sie hören wohl schlecht.»
«Also, wenn es wirklich Freunde sind, wie du sagst, dann würde ich es mir aber zweimal überlegen, bevor ich sie in diese Geschichte hineinzöge. Ich kann mir nämlich gut vorstellen, daß sie alles andere als begeistert sein werden, es mit mir zu tun zu bekommen.»
«Spul dich nicht so auf, Kumpel!»
«Den Kumpel wollen wir mal ganz schnell wieder weglassen, Freundchen. Du kannst soviel fluchen, wie du willst, aber wenn ich noch einmal dieses Wort aus deinem Mund höre, dann kassier ich dich. Ist das klar?»
Der Geschäftsführer schluckte. «Gleich erzählen Sie mir noch, daß Sie draußen eine grüne Minna zu stehen haben, was?»
Morse gestattete sich ein wohldosiertes Lächeln. «Nein, ich bin allein hier, und — ich nehme an, das wird dich interessieren — niemand weiß, daß ich hier bin. Oder, um ganz ehrlich zu sein, fast niemand. Und wenn du dich jetzt vernünftig anstellst, dann braucht auch niemand zu erfahren, daß ich hier gewesen bin. Warum auch?»
Der Geschäftsführer kaute unentschlossen auf dem Nagel seines rechten Zeigefingers herum, und Morse hielt es für angebracht, noch ein bißchen mehr Druck zu machen.
«Ich sehe doch, daß du kein schwerer Junge bist, du bist doch ganz anders als die Typen, mit denen ich sonst zu tun habe. Aber selbst wenn, würde ich kein Polizeiaufgebot im Rücken brauchen, um hierherzukommen. Und weißt du, warum?» Morse hielt inne und funkelte den jungen Mann aus zusammengekniffenen Augen so aggressiv an, daß dieser unwillkürlich einen Schritt zurückwich. «Nein, ich sehe schon», fuhr er plötzlich in ölig freundlichem Ton fort, der auf seine Art genauso unangenehm war wie der vorher, «du weißt es nicht.» Scheinbar betrübt schüttelte er den Kopf. «Nun, dann muß ich es dir wohl sagen: Mir kann überhaupt nie etwas passieren, und zwar einfach deshalb, weil ich immer unter dem Schutz der Erzengel stehe, ganz besonders natürlich dann, wenn ich unterwegs bin, um Recht und Gesetz zu verteidigen.» Aus seinem Mund klangen die beiden Begriffe geradezu einschüchternd hehr und heilig. Doch obwohl, oder vielleicht auch weil er besonders dick aufgetragen hatte, war ihm gelungen, was er sich vorgenommen hatte: der junge Mann wurde ängstlich. Diesem offenbar verrückten, gleichwohl entschlossenen Bullen war ja wohl alles zuzutrauen! Da war es vermutlich besser, sich mit ihm zu arrangieren, vernünftig zu sein, wie er gesagt hatte. Er ging
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