Das Rätsel der dritten Meile
Blutspender nicht mehr in Frage.»
«Aber», sagte Lewis plötzlich ratlos, «eigentlich ist es doch jetzt egal, ob Browne-Smith Blutspender war oder nicht. Wir wissen doch inzwischen, daß er nicht der Tote aus dem Kanal ist.»
«So?» sagte Morse in neutralem Ton und rieb sich mit einem Zipfel seines Taschentuches das getrocknete Blut von der Unterlippe. «Wer dann?»
Doch Lewis schüttelte energisch den Kopf. «Ich bin hier nur zum Zuhören.»
«Na schön. Beginnen wir mit dem Anfang. George Westerby hat irgendwann im Laufe der letzten Monate sein siebenundsechzigstes Lebensjahr vollendet, und das heißt, daß er aus seinem Amt als Professor am Lonsdale College ausscheiden muß — oder kann, je nachdem wie man das sieht. Da er bisher im College gewohnt hat, muß er sich nach einer neuen Bleibe umsehen. Ihn zieht es aus der Provinz weg in die Metropole, und tatsächlich findet er dort eine Wohnung, die ihm zusagt. Der Makler, bei dem er den Kauf abschließt, erklärt ihm, er brauche sich über den Transport seiner Habe von Oxford nach London keine Sorgen zu machen, zufällig besitze sein Bruder ein Umzugsunternehmen... Westerby ist das recht, und alsbald tritt Albert Gilbert auf den Plan, um den Umzug in die Wege zu leiten. Zu diesem Zweck kommt er nach Oxford, sucht das College auf, durchquert den zweiten Hof, steigt den Aufgang T empor — und erblickt an einer Tür im ersten Stock gegenüber dem Apartment seines Kunden Westerby ein Schild mit dem Namen des Mannes, von dem er glaubt, daß er seinen jüngeren Bruder Johnny auf dem Gewissen habe — Browne-Smith.
Unmittelbar nach dieser Entdeckung kommt — so nehme ich jedenfalls an — Alfred Gilbert ins Spiel. Albert wird dem Bruder nach seiner Rückkehr aus Oxford erzählt haben, auf was er gestoßen ist, und ab sofort übernimmt Alfred — der intelligentere von beiden, wie ich von durchaus glaubwürdiger Seite erfahren habe — die Zügel. Er ist es, der einen Plan entwickelt, Browne-Smith nach London zu locken. Den Brief, den er zu diesem Zweck schreibt, kennen wir. Er ist auf Westerbys Maschine getippt; Alfred hat in der Rolle seines Bruders Albert, der Westerbys Sachen transportieren soll, keine Schwierigkeiten, dessen Räume zu betreten. Browne-Smith nimmt, wie wir wissen, das Angebot an. Zum einen, weil es sehr verführerisch ist, zum anderen, weil es seiner Ansicht nach — und so unrecht hat er damit nicht, finde ich — kein so besonders schwerer Verstoß ist, den man von ihm als Gegenleistung für in Aussicht gestellte Genüsse erwartet. Nachdem Gilbert Browne-Smiths positive Antwort erhalten hat, muß er annehmen, daß ihm dieser in die Falle gegangen ist. Er ahnt nicht, daß Browne-Smith seinen Plan durchschaut hat, daß er weiß, wer den Brief geschrieben hat und warum. Als Gilbert am Freitag nachmittag, nachdem ihre Arbeit getan hat, das Zimmer betritt, findet er Browne-Smith nicht wie erwartet bewußtlos, sondern durchaus aller Sinne mächtig. Sie fuhren ein ernstes Gespräch miteinander, und Alfred erfährt von Browne-Smith, damals John Gilberts Vorgesetzter Offizier, daß sein jüngerer Bruder alles andere als ein Mustersoldat gewesen ist und daß er mitnichten im Kampf gefallen, sondern am Abend vor der entscheidenden Schlacht von Teil el Aqqaqir Selbstmord begangen hat. Da, wie Gilbert jetzt weiß, Browne-Smith offenbar nicht die geringste Schuld am Tod des Bruders trägt, besteht nun keinerlei Anlaß mehr, mit ihm abzurechnen. So. Hier könnte die ganze Geschichte zu Ende sein, und vier der fünf Männer, die inzwischen tot sind, wären noch am Leben, wenn nicht...»
«Wenn nicht», setzte Lewis Morse’ Gedanken fort, «wenn nicht Browne-Smith die Idee gehabt hätte, Gilberts Plan zu kopieren.»
«Ja, genau. Und damit beginnt die, wie ich es für mich genannt habe, zweite Meile.»
«Na, dann los, Sir.»
«Brauchen Sie nicht einen Kaffee?»
Lewis stand auf. «Nehmen Sie jetzt wieder Zucker, Sir?»
«Ja, aber nicht zuviel. Übrigens apropos Kaffee — in Alfred Gilberts Küche stapelten sich die leeren Kaffeedosen — als ob er sich von nichts anderem ernährt hätte. Und nicht ein Tropfen Alkohol in der ganzen Wohnung.»
«Es gibt eben Leute, die nicht trinken.»
«Was? Ach, Unsinn, die müssen Sie mir erst mal zeigen! Alfred Gilbert war einfach eine merkwürdige Type, lassen Sie sich das gesagt sein. Mein Urteil gründet sich übrigens nicht nur auf die leeren Kaffeedosen. Als ich noch ein Junge war, hat mir mal
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