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Das Rätsel der dritten Meile

Das Rätsel der dritten Meile

Titel: Das Rätsel der dritten Meile Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Colin Dexter
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irgend jemand von einem Methodistenpfarrer erzählt, der es satt hatte, wenn er auf Reisen war, im Bus oder Zug jedesmal angestarrt zu werden, sobald er seine Bibel aus der Tasche zog, und sie deshalb in einen Schutzumschlag hüllte, der eine Szene aus dem Wilden Westen zeigte. Nun, warum ich Ihnen das erzählt habe — Gilbert macht, wenn Sie so wollen, genau das Gegenteil. Der Umschlag des Buches, das er immer mit sich herumgeschleppt zu haben scheint, trug den durchaus seriösen Titel Führer durch das Köchelverzeichnis ...»
    «Wie?»
    « Führer durch das Köchelverzeichnis », wiederholte Morse ungeduldig und fügte, als er Lewis’ ratlosen Blick sah, hinzu, «Köchel war der Mann, der Mozarts Werke numeriert und ein Verzeichnis davon angefertigt hat.»
    «Ach so.»
    «Ich war neugierig und habe mal einen Blick in das Buch geworfen — was glauben Sie, was es enthielt?»
    Lewis zuckte die Achseln. «Keine Ahnung.»
    «Pornographische Abbildungen, Lewis. Und zwar von der krudesten Art. Ich, äh, ich habe es mitgenommen, wenn Sie es sich vielleicht mal ausleihen wollen...»
    «Nein, Sir. Vielen Dank, aber ich glaube, das ist mehr etwas für Sie.»
    «Ich habe es mir schon angesehen. Zweimal sogar, um ganz ehrlich zu sein», fugte er mit einem kleinen verlegenen Lächeln hinzu.
    «Haben Sie in Gilberts Wohnung sonst noch etwas entdeckt, Sir?»
    «Ja. Einen schwarzbraunen Bart. So ein Ding, das man in einem Kostümverleih kriegt und sich anklebt.»
    «Das war alles?»
    «Nein, ich habe auch noch einen Schal gefunden. Nicht ganz so lang wie meiner, doch auch sehr hübsch. Aber das war ja nun eigentlich auch schon keine Überraschung mehr.»
    «Nicht zuviel Zucker, haben Sie gesagt?» versicherte sich Lewis noch einmal.
    «Aber auch nicht zuwenig!»
    Auf der Schwelle drehte sich Lewis noch einmal um: «Was ich ja doch noch gerne gewußt hätte — hatte er nun einen Abszeß an der Zahnwurzel oder nicht?»
    «Das kann ich Ihnen sagen: er hatte nicht. Das hätte ja vorausgesetzt, daß er noch Zähne gehabt hätte, ich meine, eigene Zähne — und dem war nicht so.»

Fünfunddreißigstes Kapitel
    Montag, 4. August

Morse und Lewis folgen der zweiten Meile, die, wie ersterer meint, durchaus angemessen ausgeschildert ist.

    Während Lewis fort war, für sie Kaffee zu holen, grübelte Morse über die Wahrheit der These nach, daß, je heller das Licht der Erkenntnis strahle, desto schwärzer die Schatten der Unwissenheit. Dem konnte er eigentlich nur zustimmen. Im Grunde war seine Arbeit der eines Holzfällers vergleichbar, dachte er, dem es zwar gelungen ist, um sich herum eine Lichtung zu schaffen, dem dann jedoch das ihn umgebende Dickicht nur als um so bedrohlicher erscheint. Während seines letzten kurzen Abstechers nach London war es ihm zweifellos — um im Bild zu bleiben — gelungen, ein paar Bäume zu schlagen und mit Lewis’ zuverlässiger Hilfe würde er ganz sicher, bevor der Fall gelöst war, noch weitere abholzen. Aber wie klein war die Schneise der Wahrheit im Vergleich zu der ihn umgebenden Wildnis. Drei tote Männer — erstochen, erdrosselt, zu Tode gestürzt, sowie eine verstümmelte Leiche; verstümmelt wie seine Kenntnis dessen, was geschehen war. Aber damit würde er sich nun wohl abfinden müssen, denn keiner der vier Männer, die ihm, notfalls jeder allein, den Weg durch das Dickicht hätten zeigen können, war noch am Leben. Die ganze Wahrheit zu erfahren würde ihm deshalb auch kaum gelingen; aber vielleicht war ja das, was er und Lewis herausgefunden hatten und noch herausfinden würden, ausreichend — ausreichend in mehr als einem Sinne.
    «Also die Gilbert-Brüder waren, finde ich, schon ein interessantes Pärchen», begann Lewis, nachdem er Morse einen Plastikbecher mit lauwarmem, reichlich gezuckertem Kaffee auf den Schreibtisch gestellt hatte. «Äußerlich völlig gleich, doch vom Wesen her so verschieden. Der eine wach und intelligent, der andere etwas beschränkt...»
    «Gut, daß Sie gerade diesen Punkt ansprechen, Lewis», sagte Morse, «dazu wollte ich ohnehin noch etwas sagen. Was nämlich die Ähnlichkeit der Gilbert-Brüder angeht, von der Sie da eben gesprochen haben, so mag das für ihre Jugend gegolten haben, aber bestimmt nicht mehr jetzt, wo sie auf die sechzig zugingen. Sie müssen sich vorstellen, Lewis, daß im Laufe der Jahre bei jedem von beiden individuelle Veränderungen eingetreten sind — der eine hat Speck angesetzt, der andere Zähne verloren... Sie entwickeln

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