Das Rätsel der dritten Meile
hatte Lewis Gelegenheit, noch einmal in Ruhe über die absonderliche Entwicklung nachzudenken, die dieser merkwürdige Fall in den letzten Tagen genommen hatte. Von den ursprünglich vier in die Sache verwickelten Männern war inzwischen keiner mehr am Leben: Browne-Smith war auf dem Bahndamm bei Swindon einer Gehirnblutung als Folge seines Gehirntumors erlegen; Westerby hatte man in seinem Zimmer in einem Hotel am Bahnhof Paddington erdrosselt; Alfred Gilbert war in einem Apartment im vierten Stock des Hauses Cambridge Way 29 erstochen worden, und sein Bruder Albert schließlich hatte sich am vergangenen Samstag aus einem Fenster seiner im siebten Stock von Berrywood Court gelegenen Wohnung in den Tod gestürzt.
Und noch immer wußten sie nicht, dachte Lewis, wer der Tote war, den man vor nunmehr bald zwei Wochen bei Thrupp aus dem Kanal gezogen hatte. Und keiner der beiden Männer, die er und Morse — je nach Stand der Ermittlungen abwechselnd mal den einen, mal den anderen — für das Opfer gehalten hatten, kam jetzt mehr in Frage... Wer also war der Tote?
An diesem Punkt seiner Überlegungen angekommen, beschloß Lewis, sich nun doch lieber wieder positiveren Aspekten des Falles zuzuwenden. Immerhin hatte er in London ja einiges erfahren. So hatte zum Beispiel der Geschäftsführer der Flamenco Bar bei seiner Aussage ganz am Rande erwähnt, daß Browne-Smith merkwürdig lange gebraucht habe, ehe er sich endlich mit dem verabredeten Satz zu erkennen gegeben habe. Ferner hatte der junge Mann plötzlich unerwarteterweise zugegeben, daß der Projektor sowie die beiden Filmrollen doch nicht, wie er Morse gesagt hatte, gleich am nächsten Tag, Freitag den 11., sondern erst ungefähr eine Woche später wieder zurückgegeben worden seien. Und das sei übrigens das letzte Mal gewesen, hatte der Geschäftsführer Lewis unaufgefordert mitgeteilt, daß er jenen Mr. Williams, den Mann mit dem schwarzbraunen Bart und der Sonnenbrille, in der Bar gesehen habe...
Es war schon Viertel vor zehn Uhr, als Morse, die Unterlippe etwas blutverkrustet, schließlich im Büro eintraf.
«Tut mir leid, daß ich Sie versetzt habe, Lewis. Ich mußte heute früh gleich zum Zahnarzt. Er hat ihn mir übrigens jetzt doch gezogen — ich habe aber zum Glück kaum etwas gespürt. Bin froh, daß ich ihn los bin — , hat der Zahnarzt gesagt.» Es schien fast, als mache ihn dieses Urteil stolz. «Aber kommen wir jetzt einmal zu unserem Fall. Wo soll ich beginnen?»
«Vielleicht beim Anfang?» fragte Lewis treuherzig.
«Nein, ich denke, am besten noch davor», antwortete Morse. «Ich werde einsetzen mit dem allgemeinen Hintergrund. Während Sie in London Ihrem Vergnügen nachgegangen sind, Lewis, habe ich den Justitiar des Akademischen Prüfungsamtes aufgesucht und mich mit ihm darüber unterhalten, an welchen Punkten des Prüfungsverfahrens seines Erachtens die Gefahr der Manipulation bestehe. Ich muß sagen, der Mann hat eine ganze Menge Phantasie entwickelt! Als erste Möglichkeit nannte er, sich vorzeitig Kenntnis über seine Abschlußnote zu verschaffen. Das Warten darauf, bis sie endlich ganz offiziell bekanntgegeben wird, kann ja, wie Sie selbst mir erst neulich plastisch geschildert haben, sehr zermürbend sein, und da ist vermutlich manch einer bereit zu zahlen — in welcher Form auch immer — , wenn er nur möglichst schnell erfährt, wie er abgeschnitten hat. So schrecklich verwerflich kann ich so einen Versuch eigentlich auch nicht finden — am Ergebnis selbst ändert sich ja schließlich nichts aber es ist natürlich ein Verstoß gegen die geltenden Vorschriften. Es gibt aber eben auch ganz andere Verstöße, wesentlich schwerwiegendere. Es ließe sich zum Beispiel ein Student vorstellen, der zwischen Eins und Zwei steht. Nun weiß er zwar, daß er in die mündliche Prüfung kommt, aber nicht, über welches Gebiet er befragt werden wird. Das zu wissen, wäre aber außerordentlich vorteilhaft, weil er sich dann gezielt vorbereiten könnte und eine ungleich bessere Chance hätte, die Handgranaten, die man ihm zu wirft, zurückzuschleudern. Noch besser wäre es natürlich, er erführe nicht nur, auf welchem Gebiet er geprüft wird, sondern auch, wer ihn prüft. Er könnte sich mit den Büchern und Aufsätzen dieses Professors vertraut machen, versuchen herauszubekommen, was seine Steckenpferde sind, und nicht zuletzt sich erkundigen, was er für Fragen zu
Weitere Kostenlose Bücher