Das Rätsel der dritten Meile
Lewis beinahe unglücklich.
«Doch. Sie können mir etwas Geld leihen.»
Nachdem Morse gegangen war, rief Lewis zu Hause an, um seiner Frau zu sagen, daß sie in etwa einer Stunde mit ihm rechnen könne. Dann begann er, seinen Bericht abzufassen, nicht ohne ab und zu Chambers’s Dictionary zu konsultieren — der Chef war, was Rechtschreibung anging, unglaublich pingelig.
Er war gerade fertig, als ein Anruf kam. Es war der Pathologe.
«Morse ist nicht da? Wo ist er denn nun schon wieder hin?»
«Nach London. Es hat da eine neue Entwicklung gegeben.»
«Na schön. Richten Sie ihm aus, wenn er zurückkommt, er hätte mal wieder recht gehabt — wir haben eins der Beine gefunden. Ich habe gerade eben eine grobe Berechnung angestellt — der Mann muß so zwischen 1,78 und 1,80 m groß gewesen sein. Hoffen wir, daß Morse mit der Auskunft etwas anfangen kann...»
«Was für ein Bein?» fragte Lewis, der einige Zeit gebraucht hatte, sich von seiner Überraschung zu erholen.
«Hat er Ihnen nichts davon erzählt? Das ist doch mal wieder typisch. Er ist und bleibt eben ein alter Geheimniskrämer. Nun, seit Donnerstag haben sie doch wieder den Kanal abgesucht und gerade vor einer Stunde das Bein entdeckt. Morse hatte schon so etwas vermutet. Aber es war auch viel Glück dabei.»
Kaum hatte Lewis aufgelegt, da klingelte es erneut.
Eine Frau, die ihren Namen nicht nennen wollte, verlangte Morse zu sprechen. Als sie hörte, daß Morse nicht da sei, hängte sie ohne ein weiteres Wort wieder ein.
Und auf einmal ging es Schlag auf Schlag; das Telefon schien gar nicht mehr stillzustehen. Erst war Strange am Apparat. Er knallte wütend den Hörer auf, als er erfuhr, daß Morse nicht zu erreichen sei; dann meldete sich eine weitere Frau, deren Stimme Lewis zu erkennen meinte. Auch sie wollte jedoch nur mit Morse persönlich sprechen und lehnte Lewis’ Angebot, mit ihm vorlieb zu nehmen, glattweg ab. Der dritte Anruf kam von Dickson aus der Telefonzentrale. Lewis glaubte seinen Ohren nicht zu trauen.
«Was!? Da hast du bestimmt mal wieder nicht richtig hingehört!»
«Doch. Der Anruf kam von unseren Kollegen aus Swindon. Sie haben gesagt, daß er, als der Krankenwagen eintraf, schon tot gewesen sei.»
«Steht denn fest, daß er es wirklich ist?»
«Anscheinend ja. Haben sie jedenfalls gesagt.» Lewis legte den Hörer auf. Er überlegte. Nein, Morse zu erreichen war im Moment aussichtslos, der hatte ja diesmal den Wagen genommen. Ob ihn die Nachricht überraschen würde? Vermutlich ja — mit Westerbys Tod jedenfalls schien er offenbar nicht gerechnet zu haben. Und nun auch noch Browne-Smith!
Ungefähr zur gleichen Zeit, als Lewis die Nachricht vom Tode Browne-Smiths erhielt, bog Morse von der Hanger Lane kommend auf die North Circular ein. Er wußte, er hatte noch eine gute halbe Stunde zu fahren — viel zu lange. Die samstagnachmittägliche Verkehrsstille ausnutzend, fuhr er in einer Weise, die bisweilen ans gemeingefährliche grenzte. Doch als er endlich ankam, war er trotzdem zu spät. Der zerschmetterte Körper war bereits abtransportiert, die Menge der neugierigen Gaffer, die sich vor dem Berrywood Court versammelt hatte, begann sich bereits wieder zu zerstreuen.
Etwas später am selben Nachmittag betrat ein elegant gekleideter Geschäftsmann im Nadelstreifenanzug die letzte Kabine der Herrentoilette im Bahnhofshotel von Paddington Station. Bevor er die Kabine wieder verließ, zog er an der neben dem Klo angebrachten Strippe und hörte, als er hinausging, das vertraute Rauschen. Das Paar menschlicher Hände im Wasserkasten schien die Funktionstüchtigkeit der Spülung nicht im geringsten beeinträchtigt zu haben.
Vierunddreißigstes Kapitel
Montag, 4. August
Morse und Lewis durchmessen im Geiste noch einmal die erste Meile.
Um Viertel nach acht Uhr begann Lewis allmählich ungeduldig zu werden. Morse hatte gestern abend gegen zehn, gerade aus London zurückgekehrt, noch bei ihm zu Hause vorbeigeschaut, Mrs. Lewis’ Angebot, ihm schnell etwas zu essen zu machen, dankbar angenommen und sich dann zwei Stunden bis zum Sendeschluß vor den Fernseher gepflanzt. Die Fragen des Sergeant, was sich in London ergeben habe, hatte er abgewehrt: Lewis möge sich noch etwas gedulden, schließlich sei morgen auch noch ein Tag. Er habe aber vor, morgen schon sehr früh im Büro zu erscheinen, spätestens ab acht könne Lewis mit ihm rechnen.
Um neun Uhr war von Morse immer noch weit und breit keine Spur zu sehen, und so
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