Das Rätsel der Fatima
durch«, erwiderte sie.
»Du irrst dich, Lo Han Chen«, sagte sie laut. »Ich komme nicht, um mich behandeln zu lassen. Ich komme, um meine Arbeit aufzunehmen, so wie der großmütige Kaiser Khubilai es wünscht.«
Lo Han Chens Gesicht verfinsterte sich. Offensichtlich hatte hier keiner damit gerechnet, sie jemals wiederzusehen.
»Wie du willst«, sagte er mit missmutig herabhängenden Mundwinkeln, sodass er Ähnlichkeit mit einem alten graubärtigen Walross bekam. »Du kannst bei dem Mann dort in der Ecke anfangen.«
Freundlich wie eh und je, dachte Beatrice. Aber diesmal ließ sie sich nicht von dem alten Mann einschüchtern, diesmal war sie vorbereitet.
»Tolui, komm mit.«
»Wer ist das?«, fragte Lo Han Chen. »Er muss gehen. Der Zutritt zum Haus der Heilung ist nicht jedem gestattet.«
»Das ist Tolui, Sohn des großen Khans und mein Dolmetscher.« Der kaum siebzehnjährige Junge verbeugte sich höflich vor dem chinesischen Arzt. »Da eure Zeit es scheinbar nicht erlaubt, mir über meine fehlenden Sprachkenntnisse hinwegzuhelfen, wird Tolui das übernehmen. Auf Befehl des Khans.«
Lo Han Chen wurde weiß vor Zorn, aber er sagte nichts mehr, sondern widmete sich wieder seinem Patienten.
Beatrice atmete erleichtert auf. »Sehr schön. Diese Runde geht an die Guten.«
Tolui sah sie überrascht an. »Was hast du gesagt?«
»Nichts«, antwortete Beatrice lächelnd. »Das war nur so eine Redensart aus meiner Heimat. Nun lass uns mit der Arbeit beginnen.«
Wie sich schon kurz danach herausstellte, hatte Dschinkim mit seiner Einschätzung untertrieben. Sein Neffe, ein gut aussehender Junge, war ein Sprachgenie. Neben mehreren chinesischen und mongolischen Dialekten beherrschte er auch fließend Arabisch, Italienisch und sogar Latein, Hebräisch und Altgriechisch.
Beatrice gewann Zentimeter für Zentimeter an Boden. Die Patienten gaben ihr mit Toluis Hilfe gehorsam Auskunft, sie untersuchte sie – zielgerichtet und konzentriert – und stellte ihre Diagnosen. Die meisten Patienten in der Halle der Morgenröte litten an Infektionen, aber es gab auch chirurgische Erkrankungen wie Knochenbrüche, Nieren- und Gallensteine und sogar zwei Krebserkrankungen. Diese waren jedoch so weit fortgeschritten, dass man den beiden Männern nicht einmal mehr im 21. Jahrhundert hätte helfen können.
Als Beatrice an diesem Abend ins Bett fiel, war sie müde und erschöpft.
Sie fühlte sich ausgepumpt und leer. Trotzdem war sie zufrieden, denn im Gegensatz zu gestern hatte sie den Eindruck, jetzt auf dem richtigen Weg zu sein.
Es klopfte an der Tür. Ahmad sah überrascht von seinen Büchern auf. Wer wollte ihn zu dieser vorgerückten Stunde noch sprechen? Sogar die Diener schliefen schon. »Herein!«
Er staunte nicht wenig, als der Venezianer den Raum betrat.
» Marco? Was willst…«
»Ich muss mit dir sprechen, Ahmad«, sagte der Venezianer. »Auf der Stelle.«
Ahmad runzelte verärgert die Stirn. Der anmaßende Ton des jungen Venezianers gefiel ihm überhaupt nicht. Trotzdem deutete er auf eines der Sitzpolster auf der anderen Seite seines niedrigen Schreibtischs.
»Setz dich, verehrter Freund. Oder bist du so in Eile, dass dir hierfür die Zeit fehlt?«
Marco knirschte mit den Zähnen, ließ sich aber auf das Polster fallen. Er zog die Knie an, stützte sein Kinn darauf und sah Ahmad aus wütend funkelnden Augen an.
»Also gut. Was hast du mit dem Gift gemacht?«
»Nichts anderes, als wir besprochen haben.«
Der Venezianer sprang auf. Er beugte sich über den Schreibtisch, sodass sein Gesicht kaum mehr eine Handbreit von Ahmad entfernt war.
»Lügner!«, zischte er durch die zusammengebissenen Zähne. »Du hast nicht…«
Ahmad spürte, wie der Zorn, heißer, ungebändigter Zorn, ihn packte. So schnell, dass Marco nichts mehr dagegen tun konnte, ergriff er seinen Kragen mit der Linken, während seine rechte Hand nach dem Dolch tastete, der verborgen an seiner Hüfte hing.
»Noch niemals hat es jemand gewagt, mich einen Lügner zu nennen«, sagte er leise. »Und du wirst es auch nicht tun. Nie wieder!«
Er spürte, wie der Venezianer erschrak. Das Blut wich aus den Wangen des jungen Mannes, in seinen Augen flackerte Angst. Sein Kehlkopf hob und senkte sich, und er fuhr sich mit der Zungenspitze über die Lippen.
»Schon gut, schon gut, ich habe verstanden«, sagte er und versuchte zu lächeln. Er hob die Hände, und Ahmad ließ ihn los. »Verzeih mir, ich wollte dich nicht beleidigen. Aber…« Marco
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