Das Rätsel der Fatima
Stein vorsichtig zwischen die Finger und betrachtete ihn von allen Seiten.
»Er ist hart«, stellte er erstaunt fest. »Fast ebenso hart wie ein Knochen. Wie behandelt man in deiner Heimat diese Krankheit?«
»Kaum anders als die chinesischen Ärzte«, antwortete Beatrice und erhob sich mühsam aus der Hocke. Diese geduckte Haltung bereitete ihr zunehmend Probleme. Sie musste sich mittlerweile in der achtunddreißigsten oder neununddreißigsten Woche der Schwangerschaft befinden. Sie hatte Rückenschmerzen und schnürte sich außerdem den Bauch ein, was dem ungeborenen Kind überhaupt nicht zu gefallen schien, denn jedes Mal danach strafte es sie mit heftigen Tritten. »Auch wir geben den Kranken Medizin, um die Ausscheidung des Steins zu fördern. Natürlich handelt es sich um andere Rezepturen, weil wir andere Kräuter und Substanzen kennen. Nur wenn der Stein zu groß ist, um auf natürlichem Weg den Körper zu verlassen, wenden wir…«
Doch bevor Beatrice von Steinzertrümmerung, Schlingenextraktion und Operation berichten konnte, wurde sie von lautem Geschrei unterbrochen. Sechs Männer kamen in die Halle der Morgenröte gestürmt. In ihrer Mitte, eingewickelt in ein großes Tuch, trugen sie einen Mann. Sie riefen so aufgeregt durcheinander, dass man kaum sein eigenes Wort verstehen konnte.
»Was ist los?«, fragte Beatrice.
»Sie bringen ihren Herrn«, antwortete Tolui. »Er scheint plötzlich und unerwartet krank geworden zu sein.«
Lo Han Chen und der andere Arzt sahen den Männern entgegen, als wären sie nur unbeteiligte Besucher im Haus der Heilung. Die Männer liefen zu den beiden, und der Kranke in ihrer Mitte schwankte so bedrohlich hin und her, dass Beatrice nur hoffen konnte, dass er keine Kopf- oder Wirbelsäulenverletzung hatte. Lo Han Chen und sein Kollege warfen einen kurzen Blick auf den Mann und schüttelten die Köpfe. Keiner von ihnen schien die Absicht zu haben, sich zu rühren und sich um den Notfall zu kümmern.
»Warum helfen die beiden dem Mann nicht?«, fragte Beatrice.
»Sie sagen, es ist sinnlos. Er stirbt.«
»Und das können sie mit einem Blick aus zwei Metern Entfernung erkennen?« Beatrice stieß einen tiefen Seufzer aus. Einmal mehr hatte sie Schwierigkeiten, das Verhalten der Chinesen zu verstehen. »Dann werde ich mir das eben mal ansehen.«
»Aber die anderen Ärzte sagen doch, dass die Bemühungen keinen Zweck haben. Sie sagen…«
»Da wo ich herkomme, gibt man ein Menschenleben nicht auf, ohne wenigstens zu versuchen, es zu retten. Komm mit, ich werde dich brauchen.«
Ein strahlendes Lächeln glitt über das Gesicht des Jungen, und gemeinsam liefen sie den Männern entgegen. Beatrice dirigierte sie zu einem freien Bettgestell und gab ihnen mit Handzeichen zu verstehen, den Kranken dort abzulegen. Dem Mann ging es ohne Zweifel schlecht. Er keuchte und japste und war kaum noch ansprechbar, aber mit einem Blick zu sagen, dass dies ein hoffnungsloser Fall sei, fand Beatrice dann doch sehr gewagt.
»Sie fragen, ob du den Mann behandeln willst«, übersetzte Tolui.
»Ich werde mein Bestes tun. Sie sollen ihn mit erhöhtem Oberkörper lagern, damit er besser atmen kann«, befahl sie. Hinter ihr spuckte Lo Han Chen Gift und Galle, aber sie beachtete ihn nicht. Jetzt gab es Wichtigeres als die verletzte Eitelkeit des alten Chinesen. »Sind sie seine Angehörigen?«
Tolui schüttelte den Kopf und rollte rasch eine Decke zusammen, die er dem Kranken in den Rücken stopfte.
»Nein, seine Diener. Sein Name ist Jiang Wu Sun.«
»Jiang Wu Sun, hören Sie mich?«
Beatrice schrie den Mann fast an, doch er war zu sehr mit dem Versuch beschäftigt, seine Lungen mit Luft zu füllen, um auf sie zu achten.
»Frag die Diener, was passiert ist«, sagte sie und begann gleichzeitig die Schnüre an der Kleidung zu öffnen. Die Männer wollten dagegen protestieren, doch wenige scharfe Worte von Tolui reichten aus, um sie einzuschüchtern. Die Diener wichen ein paar Schritte zurück. Trotzdem fühlte Beatrice ihre misstrauischen Blicke, die jeden Handgriff genau verfolgten, während sie Jiang Wu Suns Körper nach Verletzungen abtastete.
Der Mann war höchstens dreißig Jahre alt und hatte die Statur eines Sumo-Ringers. Eine Erkrankung als Ursache für diese Fettleibigkeit konnte Beatrice natürlich nicht ausschließen, doch sie hielt es für unwahrscheinlich. Seiner Kleidung nach zu urteilen war er Beamter am kaiserlichen Hof – eine Berufsgruppe, die sich ein ausschweifendes Leben
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