Das Rätsel der Fatima
Pfeil hat sein Ziel verfehlt«, sagte Dschinkim, und etwas in seiner Stimme klang nach Triumph und Erleichterung.
»Aber glaube mir, der Jäger ist noch nicht zufrieden«, erwiderte Maffeo düster. »Er wird es wieder versuchen und nicht eher ruhen, bis er das Wild erlegt hat. Ich kenne Marco. Sei auf der Hut, Beatrice.«
»Du brauchst dir keine Sorgen zu machen«, entgegnete sie. »Ich weiß, wie ich mich verhalten muss.«
Nachdenklich drehte Beatrice den Ring zwischen ihren Fingern. Es war ein schlichter goldener Reif mit einem großen, oval geschliffenen, wunderschönen, in allen Farben des Regenbogens schimmernden Opal. Ein kostbares Geschenk, über das sie sich riesig gefreut hätte, wenn jemand anders es ihr gemacht hätte. Sie steckte den Ring in ihre Tasche und war sich sicher, dass sie nie einen Boten damit losschicken würde.
»Dschinkim«, sagte sie und biss sich nachdenklich auf die Lippe. »Würde es dir viel ausmachen, mich morgen wieder ins Haus der Heilung zu begleiten?«
Ein Lächeln huschte über das Gesicht des Mongolen. Er wirkte überrascht – aber auch erfreut.
»Selbstverständlich. Vorausgesetzt, du willst diese Strapaze wirklich erneut auf dich nehmen.«
»Natürlich, das habe ich doch schon gesagt. Aber so wie heute kann ich nicht arbeiten. Ich lebe erst seit kurzer Zeit in diesem Land und spreche die Sprache der Kranken nicht. Ich brauche einen Dolmetscher, einen Mittler zwischen mir und den Patienten. Darum bitte ich dich, mir einen zuverlässigen Dolmetscher zur Verfügung zu stellen, der mir bei meiner Arbeit behilflich sein kann.«
»Selbstverständlich werde ich deiner Bitte entsprechen«, erwiderte er und lächelte, sodass Beatrice ganz warm ums Herz wurde. »Ich werde meinen Neffen Tolui mitbringen. Er ist ein Sohn meines Bruders Khubilai. Und da er ein paar verschiedene chinesische Dialekte spricht, ist er für diese Aufgabe sicherlich gut geeignet.«
13
Am nächsten Morgen, kurz nach Sonnenaufgang, stand Beatrice erneut vor dem Haus der Heilung. Die Sonne schien direkt auf das große Portal. Die Farben leuchteten, und die gemalten Drachen, Pfirsiche und Zikaden wirkten, als wären sie lebendig. Zikaden… Noch gestern Abend hatte Maffeo ihr erklärt, dass diese Insekten für die Chinesen nicht nur ein Sinnbild für ein gesundes, langes Leben waren, sondern auch ein Symbol für eine Wende zum Positiven.
Hoffentlich stimmt das. Heute könnte ich es sicher gut brauchen, dachte Beatrice und holte tief Luft, bevor sie gemeinsam mit Dschinkim und dessen Neffen Tolui das Haus der Heilung betrat.
Sie war froh über die Begleitung der beiden. Dschinkim war vielleicht nicht ihr Freund, wenigstens noch nicht, aber sie hatte das Gefühl, dass er hier, inmitten dieser Atmosphäre von Feindschaft und Misstrauen, ein starker und zuverlässiger Verbündeter war.
In der Halle der Morgenröte war es ruhig. Nur Lo Han Chen und ein weiterer Arzt waren anwesend und kümmerten sich um die Patienten, die still und geduldig auf ihren Strohmatten lagen. Vielleicht hatten die anderen Ärzte ihren Dienst noch nicht angetreten. Oder aber der gestrige Aufmarsch der in ganz Taitu tätigen Ärzte war eigens für sie in arrangiert worden.
»Guten Morgen!«, sagte Beatrice laut auf Mongolisch.
Die beiden Ärzte zuckten zusammen und starrten sie an, als hätten sie eine Geistererscheinung vor sich.
»Wenn Ihr unseren Rat sucht oder eine Konsultation wünscht, müsst Ihr euch bei dem Schreiber anmelden«, erklärte Lo Han Chen, der sich offensichtlich schneller von seinem Schrecken erholte als sein jüngerer Kollege. »Er sitzt in dem Raum gleich links neben dem Tor. Er wird Euch sagen können, wann unsere Zeit es erlaubt, Euch zu behandeln.«
Die Stimme des alten Arztes klang so unfreundlich und abweisend, dass es Beatrice kalt den Rücken hinunterrieselte. Jeder andere wäre auf der Stelle zu Eis erstarrt. Aber eine Frau, die Anfang des 21. Jahrhunderts als Chirurgin arbeitete, war mit allen Wassern gewaschen. Lo Han Chens unfreundliches Verhalten war nichts Besonderes. Im Gegenteil, von einigen ihrer Kollegen in Hamburg war sie ganz anderes gewohnt. Das war Beatrice in der Nacht klar geworden. Und so manches außerdem…
»Du kannst immer noch umkehren«, flüsterte Dschinkim ihr zu. Sogar er schien froh darüber zu sein, dass die Unfreundlichkeit ausnahmsweise nicht gegen ihn gerichtet war. »Ich bin sicher, Khubilai wird dich…«
»Kommt gar nicht infrage. Ich stehe das hier
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