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Das Rätsel der Fatima

Das Rätsel der Fatima

Titel: Das Rätsel der Fatima Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Franziska Wulf
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Umständen tödliche Komplikation. »Beim Spannungspneumothorax geht es um Minuten!« Dieser Satz aus einem chirurgischen Lehrbuch stand jetzt in großen, flammenden Buchstaben vor ihren Augen. Zu Hause, auf der Notaufnahme, waren die erforderlichen Maßnahmen eine leichte Übung, Routinehandgriffe, die sie im Schlaf beherrschte: Drainage legen, Saugpumpe anschließen und dann hoch auf die Intensivstation in die Obhut der Anästhesisten… Die dafür benötigten Kanülen und Schläuche lagen in jedem Behandlungsraum griffbereit in einer der Schubladen. Aber hier, im chinesischen Mittelalter? Der Mann würde sterben, vor ihren Augen, direkt unter ihren Händen. Eine Vorstellung, vor der sie sich kaum weniger fürchtete als jeder andere Chirurg auf der ganzen Welt. Morte in tabulam. Ihr wurde plötzlich schlecht.
    »Wie bitte? Was hast du gesagt?«, fragte Tolui und sah sie verständnislos an.
    »Nichts. Es ist nur… ich muss schnell handeln, sonst stirbt er.« Ratlos fuhr sie sich durchs Haar. Womit konnte sie den Druck, der sich zunehmend im Brustkorb des Mannes aufbaute und mit jedem Atemzug Lunge und Herz stärker zusammenpresste, entlasten?
    Lieber Gott, Allah, ich brauche eine Idee!, flehte sie und sah sich hastig um. Eine Idee, bitte!
    Da fiel ihr Blick auf eines jener dünnen Bambusrohre, welche die Patienten als Strohhalme benutzten. Die Dinger waren erstaunlich hart, fast wie Stahlnadeln. Erst gestern hatte sie sich an einem von ihnen gestochen. Sie nahm sich das Bambusrohr. Eigentlich war es zu dick, es hatte ungefähr den Durchmesser eines Bleistifts, aber etwas Besseres fiel ihr nicht ein. Außerdem hatte sie keine Zeit mehr, wählerisch zu sein. »Tolui, hast du ein Messer?«
    »Ja, aber…«
    »Frag nicht. Schneide das Ende so spitz zu, wie möglich. Und beeil dich.«
    Tolui stellte keine Fragen mehr. Er gab sich alle erdenkliche Mühe, den Bambusstab mit seinem scharfen Jagdmesser so zurechtzuschnitzen, wie Beatrice gesagt hatte. Als er endlich fertig war, riss sie ihm das Bambusröhrchen fast aus der Hand. Jiang Wu Sun ging es mittlerweile so schlecht, dass er kurz davor war zu kollabieren. Dazu durfte es nicht kommen. Einer manifesten Kreislaufinsuffizienz mit drohendem Herzversagen würde sie hier machtlos gegenüberstehen.
    »Besorg mir ein Stück Leder oder eine Schweinsblase oder etwas Ähnliches. Und Nadel und Faden!«, befahl sie Tolui, während sie den Brustkorb des Mannes abtastete, um die geeignete Stelle zu finden.
    »Zweiter Intercostalraum, Medioclavikularlinie«, murmelte Beatrice immer wieder wie ein Mantra vor sich hin, als könnte es ihr bei der Suche nach den Rippen unter der dicken Fettschicht helfen. Tolui gab ihre Anweisung an einen der Diener weiter und blieb bei ihr. Die Diener drängten sich um sie, und die Patienten reckten ihre Hälse. Nur am Rande registrierte Beatrice, dass auch Lo Han Chen und sein Kollege näher gekommen waren und ihnen über die Schulter sahen.
    Offensichtlich wollte keiner in der Halle der Morgenröte diese spektakuläre Show versäumen.
    Endlich hatte Beatrice gefunden, was sie suchte – den Zwischenraum zwischen der zweiten und der dritten Rippe. Sie nahm das Bambusrohr. Tolui hatte gute Arbeit geleistet, es war fast ebenso scharf und spitz wie eine Kanüle. Fast. Sie konnte nur hoffen, dass es ausreichen würde. Beatrice holte tief Luft – und stach zu.
    Im selben Augenblick schrien die Diener vor Schreck auf und sprangen zurück. Lo Han Chen rief nach den Wachen. Die Patienten, die ja zum größten Teil nicht wussten, worum es ging, schrien durcheinander und wimmerten. Bettgestelle wurden hin und her geschoben, und jeder, der noch einigermaßen dazu in der Lage war, versuchte aufzustehen und fortzulaufen. Es war ein Tumult, wie ihn die Halle der Morgenröte vermutlich noch nie gesehen hatte, höchstens bei einem Erdbeben.
    Doch Beatrice hörte dies alles nur von Weitem. Sie konzentrierte sich voll und ganz auf ein einziges Geräusch – ein leises Zischen, als die angesammelte Luft durch das Bambusrohr aus dem Brustkorb des Mannes entwich. In diesem Augenblick kam der Diener, den Tolui weggeschickt hatte, zurück. Rasch nahm Tolui dem verwirrt um sich blickenden Mann alles aus der Hand und reichte es an Beatrice weiter.
    Unter den verschiedenen Lederstücken befand sich auch eine Schweinsblase. Sie war klein, vermutlich stammte sie von einem jungen Tier. Beatrice nahm sie, ließ sich Toluis Messer geben, kürzte die Blase nochmals um zwei Drittel

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