Das Rätsel der Fatima
und schnitt ein Loch hinein. Dann band sie die Blase so fest sie konnte an das Bambusrohr. Sie hatte ein Ventil gebastelt, das verhindern sollte, dass sich mit jedem Atemzug der erhöhte Druck im Brustkorb erneut aufbaute. Erleichtert sah sie zu, wie sich die Halsvenen langsam entleerten und die blaue Färbung der Lippen nachließ. Die Krise war überstanden. Jiang Wu Sun wurde ruhiger. Er schlug die Augen auf und sah sie dankbar an.
»Es ist ein Wunder. Du hast ihm das Leben gerettet«, stellte Tolui fest und beobachtete fasziniert, wie sich die Schweinsblase mit Luft füllte, wenn der Mann einatmete, und beim Ausatmen wieder in sich zusammenfiel.
Doch Beatrice schüttelte den Kopf, auch wenn es wehtat, der grenzenlosen Begeisterung des jungen Mongolen einen Dämpfer zu verpassen.
»Nein, du irrst dich, Tolui. Meine Maßnahme hat lediglich die akute Lebensgefahr abgewendet. Er ist noch lange nicht ›über den Berg‹, wie wir in meiner Heimat sagen. Allerdings haben wir Zeit gewonnen, Zeit, in der wir uns überlegen können, auf welche Weise er behandelt werden kann.« Sie erhob sich. Jetzt, da die Wirkung der Stresshormone nachließ, spürte sie, wie müde und erschöpft sie war. Ein Phänomen, das wohl jeder Arzt, der mit Notfällen zu tun hatte, kannte. »Tolui, bleib bitte bei ihm. Beobachte ihn und sorge dafür, dass er mit erhöhtem Oberkörper liegen bleibt. Ich komme gleich wieder, ich möchte nur einen Augenblick in den Garten gehen. Hol mich, falls sich sein Zustand in der Zwischenzeit verschlechtern sollte.«
Die Diener und Patienten machten ihr respektvoll Platz. Sie starrten sie an, als wäre sie eine wundertätige Märchenfee. Der junge Arzt, der heute mit Lo Han Chen die Patienten in der Halle der Morgenröte behandelte, sah sie voller Bewunderung an und verneigte sich sogar vor ihr. Nur Lo Han Chen schien anderer Ansicht zu sein. In seinen Augen flackerte offener Hass.
Müde und erschöpft schleppte sich Beatrice in den Garten, der sich im Innenhof des Hauses der Heilung befand. Erst hier wurden ihr die riesigen Ausmaße des Hauses bewusst, denn der Innenhof war schätzungsweise mehrere hundert Quadratmeter groß. Überrascht von der überwältigenden Schönheit, blieb sie am wundervoll geschwungenen Tor stehen. Dieser Garten war ein Paradies; ein Paradies, das ein Sterblicher sicher nur unter ganz bestimmten Voraussetzungen betreten durfte. Der Garten zog sie magisch an, und weit und breit waren keine Wächter zu sehen. Also ging sie einfach selbstbewusst durch das Tor, als hätte der Kaiser höchstpersönlich ihr die Erlaubnis dafür erteilt.
Langsam und bedächtig schlenderte sie die mit Rindenmulch ausgestreuten Wege entlang und betrachtete alles um sie herum voller Erstaunen.
Es gab sorgfältig ausgewählte Felsen aus dunkelgrauem Granit, auf denen Moospolster und beschnittene Krüppelkiefern wuchsen. Kleine Bäche plätscherten über helle Kiesel und sammelten sich in zwei klaren Seen, in denen Goldfische und Wasserschildkröten schwammen. Überall im Innenhof verteilt standen wunderschöne braun, rot, grün und blau glasierte Schalen. In ihnen wuchsen Bäume, sowohl Nadel- als auch Laubbäume, die Beatrice an Bonsais erinnerten. Allerdings waren sie größer und ihre Formen urwüchsiger als die der japanischen Zwergbäume. Beatrice erinnerte sich an die drei Bonsais, die Markus besessen hatte. Es waren seltene Kostbarkeiten, Geschenke von japanischen Geschäftsfreunden, deren Erde er ebenso sorgfältig gefegt und von jedem Stäubchen befreit hatte, wie er seine Schuhe zu putzen pflegte. Immer wieder hatte er versucht, ihr die Philosophie zu erklären, die hinter den Bonsais stand. Trotzdem war ihr jedes Mal ein Schauer über den Rücken gelaufen, wenn er den kleinen Bäumen mit Bindedraht und Schere zu Leibe gerückt war, um sie in die vom Zen vorgeschriebenen Formen zu bringen. Es kam ihr vor wie eine Vergewaltigung. Wenn hier jedoch ein Mensch seine Hand im Spiel gehabt hatte, so war er wesentlich behutsamer vorgegangen. Diesen Bäumen war keine künstliche Form anzumerken. Es machte den Eindruck, als hätte die Natur sie genauso gewollt, wie sie waren.
Von einer der auf den Innenhof zulaufenden Regenrinnen hing ein Klangspiel aus Metallstäben herab. Es bewegte sich leicht im Wind und erzeugte leise, wohlklingende Töne. Am liebsten hätte Beatrice sofort auf einem der Meditationsschemel Platz genommen, die überall neben den Felsen standen. Der weiche Boden federte unter ihren
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