Das Rätsel der Fatima
Was auch immer Maffeo vergiftet hatte, es musste aus einer Pflanze oder von einem Tier stammen. Doch half ihr das weiter? Nein. Sie hatte die Anzahl aller möglichen Gifte lediglich von schätzungsweise fünf Millionen auf etwa drei Millionen eingegrenzt. Ganz zu schweigen davon, dass sie sich nicht in Europa aufhielt. Was wusste sie schon über die chinesische Tier- und Pflanzenwelt und über die Gifte, die sich darin verbargen? Sie wollte bereits resigniert aufgeben, als ihr ein Gedanke kam. Würde es sich um ein in China bekanntes Gift handeln, hätte dann nicht Li Mu Bai die Symptome erkennen müssen? Konnte nicht jemand ein für China exotisches Gift gewählt haben, um auf Nummer sicher zu gehen, dass die hiesigen Ärzte nicht in der Lage waren, die Vergiftung zu behandeln? Karawanen transportierten alles aus dem arabischen Raum und aus Europa hierher, und es gab wohl nichts, womit die Kaufleute nicht zu handeln bereit waren. Warum also nicht auch mit giftigen Kräutern? Aber welches Gift hatte man Maffeo verabreicht?
Jetzt brauche ich einen zündenden Gedanken, eine rettende Idee – oder ein Wunder, dachte Beatrice und griff in ihre Jackentasche, so wie sie es immer tat, wenn sie nachdachte und ihre Finger etwas zum Spielen brauchten. Doch statt Kugelschreibern, Heftpflasterrollen und Braunülen – dem üblichen Inhalt ihrer Kitteltaschen – spürte sie etwas Hartes, Glattes von der Größe einer Walnuss. Der Stein der Fatima! Heute früh war die Schnur des Lederbeutels gerissen, sodass sie ihn nicht wie sonst um den Hals trug, sondern in die Tasche gesteckt hatte. Wie hatte sie ihn nur vergessen können?
Sie schloss ihre Hand um den kühlen Stein. Es war ein tröstliches, beruhigendes Gefühl. Und dann kam ihr ein verrückter Gedanke: Vielleicht konnte sie den Saphir um Hilfe bitten. Sie schämte sich fast für diesen kindischen Aberglauben, doch was hatte sie zu verlieren? Das Schlimmste, was passieren konnte, war, dass gar nichts passierte. Also wandte sie sich von Maffeo ab und hob die Faust zum Mund.
»Bitte, Stein der Fatima!«, flüsterte sie. »Bitte hilf mir! Bitte, Maffeo darf nicht sterben.«
»…giorno, bella donna!«, sagte Maffeo in diesem Augenblick und verneigte sich galant in seinem Selbstgespräch vor einer Gestalt, die nur für ihn sichtbar war.
Für einen Moment blieb Beatrice wie erstarrt stehen und sah Maffeo an, als hätte er sich in einen der heiligen drei Könige verwandelt.
Natürlich! Belladonna, die Tollkirsche. Das musste es sein. Kaum zu glauben, dass Maffeo selbst ihr den Schlüssel zu diesem Rätsel geliefert hatte, gerade in dem Moment, in dem sie den Stein um Hilfe bat. War das Zufall? Oder war es ein weiteres Rätsel, das der Stein in sich barg?
Beatrice wanderte aufgeregt im Zimmer auf und ab, während sie ihr Gedächtnis nach allem durchforschte, was sie über die Tollkirsche, ihr Gift und potenzielle Gegenmittel wusste. Im Mittelalter wurden Tollkirschen in Europa oft von sogenannten Hexen und Alchimisten angewandt, um Halluzinationen zu erzeugen. Das hierfür verantwortliche Gift, das Atropin, verursachte neben diesen Wahnvorstellungen auch eine starke Pupillenerweiterung, trockene Haut und Schleimhäute sowie eine unter Umständen bedrohliche Tachykardie und hohes Fieber. Bei einem, wie in Maffeos Fall, vorgeschädigten Herzen eine vermutlich tödliche Komplikation. Aber wie behandelte man diese Vergiftung?
Schlagworte fielen ihr ein: Hämodialyse, Magenspülung, intravenöse Injektionen von Gegenmitteln – alles Maßnahmen, die sie hier, unter diesen Umständen, getrost vergessen konnte. Nein, es musste etwas Einfaches sein, etwas, das ohne Technik und jegliche Errungenschaften des medizinischen Fortschritts auskam, etwas, das auch Sokrates oder den Schamanen der Steinzeit zur Verfügung gestanden hätte.
Beatrice schloss die Augen und versuchte, aus ihrem Gedächtnis hervorzukramen, was sie einst, vor unendlich langer Zeit, für ihr Staatsexamen auswendig gelernt hatte. Und – o Wunder – tatsächlich tauchte aus dem Nebel des Vergessens etwas auf. Es war ein einzelnes Wort, und es stand in großen leuchtenden Buchstaben vor ihr: »Aktivkohle«.
Beatrice hatte sich noch nie in ihrem Leben Gedanken darüber gemacht, was »Aktivkohle« oder »medizinische Kohle« eigentlich war. Aber wenn sie an die kleinen pechschwarzen Kohlecompretten dachte, die sie als Kind immer hatte einnehmen müssen, wenn sie unter Durchfall gelitten hatte, dann konnte sie sich
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