Das Rätsel der Fatima
nicht vorstellen, dass es sich bei Aktivkohle um etwas anderes handelte als ganz normale Kohle. Vermutlich war Aktivkohle nur von der pharmazeutischen Industrie besonders gereinigt und aufbereitet. Aber das war – so hoffte sie wenigstens – nicht so wichtig. Sie musste jetzt also irgendwoher Kohle besorgen, sie fein reiben und in Wasser einrühren, damit Maffeo den Brei trinken konnte. Anschließend würde sie sich darum kümmern, dass seine Körpertemperatur sank, und das Zimmer würde so lange abgedunkelt bleiben, bis die Wirkung des Gifts nachließ, damit er nicht geblendet wurde.
»Maffeo, ich weiß jetzt, wie ich dich behandeln kann«, sagte sie und strich ihm über sein schütteres Haar, ohne dass er darauf reagierte. Er war so sehr in das Gespräch mit der Unsichtbaren vertieft, dass die reale Welt für ihn nicht mehr existierte. Sein Kopf fühlte sich heiß und seltsam trocken an. Eine typische Wirkung des Atropins, das die Sekretion aller Schweiß- und Speicheldrüsen unterbindet. »Ich bin gleich wieder da. Ich muss nur das Mittel besorgen. Trink noch etwas.«
Beatrice goss ihm noch einen Becher voll Wasser ein und lief dann aus dem Zimmer.
Es war gar nicht so leicht, mitten in der Nacht einen Diener aufzutreiben, trotz der riesigen Ausmaße des Palastes. Erst nach langem Suchen stieß Beatrice auf jemanden. Es war ein dürrer, schmutzstarrender, etwa siebzehnjähriger Junge, der einen schweren, ebenfalls schmutzigen Sack mühsam hinter sich herzog. Der Junge hatte eine stark verkrümmte Wirbelsäule und humpelte, weil ein Bein kürzer und schwächer war als das andere. Zuerst wollte Beatrice ihn gar nicht ansprechen, doch dann sah sie, wie er zu einem der Kohlenbecken humpelte, seinen Sack öffnete und etwas Schwarzes in das Metallbecken warf, sodass die Glut hochspritzte wie bei einem Miniaturfeuerwerk. Es war Kohle.
»He, Junge! Warte mal!«, rief sie ihm zu.
Überrascht drehte er sich um. Er schielte so stark, dass Beatrice nicht mit Sicherheit sagen konnte, mit welchem Auge er sie ansah. Vermutlich war er auf einem von beiden sogar blind; ein Kunstgriff der Natur, um das Gehirn vor der Belastung durch ständige Doppelbilder zu schützen.
»Was machst du da?«
»Ich hüte die Kohlenfeuer, Herrin«, antwortete er mit einer schönen, klaren Stimme und verneigte sich so ungeschickt, als wäre ihm diese Bewegung fremd.
Beatrice spürte, wie sie rot anlief.
»Du kümmerst dich also um die Kohlenfeuer?«, fragte sie, um von ihrer eigenen Verlegenheit abzulenken. Sie schämte sich, weil sie automatisch erwartete hatte, dass der Junge neben seiner schweren körperlichen Behinderung auch geistig zurückgeblieben war. Manche Vorurteile waren eben nur schwer zu besiegen, selbst dann, wenn man es eigentlich besser wissen müsste. »Ich habe dich noch nie hier gesehen.«
»Das mag daran liegen, Herrin, dass ich nur in der Nacht meinen Rundgang mache, während alle anderen schlafen. Tagsüber kümmern sich andere Diener um die Feuer.«
»Ist das nicht sehr anstrengend? Ich meine, immer nur nachts zu arbeiten?«
Der Junge zuckte gleichmütig mit den Schultern. »Ich kenne es nicht anders. Ich habe es besser getroffen als die meisten Diener am Hof des großen Khans – kein Aufseher, der mich herumscheucht, die anderen Diener lassen mich in Ruhe, weil sie nichts mit mir zu tun haben wollen, und wenn ich meinen Rundgang beendet habe, bleibt mir meistens noch genug Zeit, um den Himmel zu betrachten. Ich liebe die Ruhe und Stille der Nacht, die Sterne, den Mond, der jeden Tag ein anderes Gesicht hat, und das Zirpen der Grillen in den lauen Sommernächten. Außerdem kann auf diese Weise keiner der hohen Herrschaften Anstoß an meiner hässlichen Gestalt nehmen.« Beatrice erschrak über die Worte des jungen Dieners. Er sprach so ohne Bitterkeit, als wäre er sogar dankbar für dieses unerfreuliche Schicksal, das ihn getroffen hatte. »Aber ich sollte nicht so geschwätzig sein, das schickt sich nicht. Habt Ihr einen Wunsch, Herrin? Friert Euch? Ist das Kohlenfeuer in Eurem Gemach erloschen? Sollte dies der Fall sein, muss ich Euch bitten, zu warten, bis ich einen der anderen Diener gerufen habe. Mir ist es nämlich nicht gestattet, die Gemächer der Herrschaften zu betreten.«
»Nein, danke, ich friere nicht, und das Feuer in meinem Zimmer brennt gut. Dennoch habe ich eine Bitte an dich. Ich brauche ein Stück Kohle. Es muss nicht sehr groß sein.«
»Gern gebe ich Euch, was Ihr verlangt«, sagte der
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