Das Rätsel der Fatima
Stillstand bringen können. Aber verstehe doch…« Li Mu Bai umklammerte Maffeos Arme so stark, dass es wehtat. Plötzlich konnte er sich sehr wohl vorstellen, dass es buddhistische Mönche gab, die sich auf den Schwertkampf verstanden – und sogar bereit waren zu töten. »Dein Puls, deine Zunge sagen mir, dass dein Chi seit mehreren Tagen schwindet. Und das immer schneller. Doch deine Augen sagen mir, dass es dafür eigentlich noch viel zu früh ist. Deine Lebensenergie sollte noch für viele Jahre reichen, und ich finde keine Ursache, warum das geschieht.« Er schüttelte den Kopf. »Wie soll ich dir das erklären? Es ist wie eine Kerze. Sie brennt und ist eigentlich noch ziemlich groß, doch dann öffnet jemand die Tür, und der Wind bläst sie aus.« Er nickte zur Bekräftigung seiner Worte. »Ja, genauso ist es. Jemand hat den Wind hereingelassen, Maffeo.«
Manchmal habe ich immer noch Schwierigkeiten damit, Li Mu Bai zu folgen und seine Metaphern zu verstehen, dachte Maffeo und überlegte, was der Mönch mit seinen Worten wohl meinen könnte. Der Wind bläst eine Kerze aus… Die Kerze ist seine Lebensenergie, sein Lebenslicht… Jemand lässt den Wind herein… Jemand bläst sein Lebenslicht aus… Die Erkenntnis traf ihn wie ein Hammerschlag, und für einen Augenblick wurde Maffeo schwarz vor den Augen. Er schwankte. Li Mu Bai griff ihm unter die Arme und stützte ihn.
»Du meinst doch nicht etwa…«, stieß er mühsam hervor.
Er hatte plötzlich das Gefühl, als würde eine eisige Hand seinen Hals umklammern und langsam zudrücken.
Li Mu Bai nickte. »Doch, genau das meine ich.«
»Was könnte es denn sein?« Maffeo brachte nur noch ein Flüstern hervor. Er bekam kaum noch Luft. »Vielleicht… Gift?«
»Ich weiß es nicht.« Li Mu Bai schüttelte den Kopf und presste die Lippen aufeinander. Noch nie zuvor hatte Maffeo den Mönch so ernst gesehen. »Geh zu Beatrice, der Frau aus dem Norden des Abendlandes. Sie kennt Dinge, die wir nicht wissen. Das habe ich in den vergangenen Tagen im Haus der Heilung oft genug gesehen. Frage sie um Rat, vielleicht kann ihre Heilkunst dir helfen, wo meine versagt.«
»Gut. Gleich morgen früh werde ich…«
Doch Li Mu Bai schüttelte erneut den Kopf. Sein Blick gefiel Maffeo überhaupt nicht. Er wirkte so erschreckend ernst. Todernst. »Noch heute. Sprich noch heute mit ihr, Maffeo. Ich sage es dir nur ungern, mein Freund, aber dir bleibt nicht mehr genug Zeit, um bis morgen zu warten.«
An diesem Abend kehrte Beatrice erst spät in ihr Gemach zurück. Sie war müde und erschöpft, noch mehr als an den anderen Tagen, aber sie war auch zufrieden. Jiang Wu Sun war es zusehends besser gegangen. Bereits nach zwei Stunden hatte sie probeweise das selbst gebastelte Ventil aus seinem Brustkorb entfernt und die kleine Wunde wie ein Leck in einem Eimer mit Leder zugestopft. Ihre Befürchtungen, dass der Spannungspneu zurückkehren würde, bewahrheiteten sich zum Glück nicht. Im Gegenteil. Offenbar hatte sich der Riss in Jiang Wu Suns Lunge von selbst wieder geschlossen. Nach drei weiteren Stunden hatte sie es dann gewagt, die Lederlappen zu entfernen und die Wunde zuzunähen. Und als sie am späten Abend zum letzten Mal nach Jiang Wu Sun gesehen und seinen Brustkorb abgehört hatte, hatten die Atemgeräusche auf der linken Seite fast normal geklungen, als hätte sich der verletzte Lungenflügel von selbst wieder entfaltet. Wie das ohne Drainage und Sog mit Unterdruck überhaupt möglich war, konnte sie sich zwar nicht erklären, aber was sollte es. Sie war lange genug Ärztin, um zu wissen, dass es immer wieder Überraschungen gab. Meistens waren es unerfreuliche, aber es gab auch Ausnahmen. Manchmal hatte man eben Glück.
Beatrice trat in ihr Zimmer. Es war stockdunkel. Vermutlich hatte ihre kleine Dienerin vergessen, die Lampen anzuzünden. Wenn Ming sich noch um ihre Belange gekümmert hätte, könnte sie davon ausgehen, dass die alte Chinesin sie bereits gelöscht hatte, um Öl zu sparen oder Beatrice durch die Blume verstehen zu geben, dass sich eine anständige Chinesin um diese Zeit bereits in ihrem Bett befände.
Beatrice vermisste die alte Dienerin nicht. Sie wünschte Ming angenehme Träume, Träume von chinesischen Damen aus edlen Familien und von vornehmer Erziehung, die allein ihrer Mühen würdig gewesen wären. Und diese selbstverständlich auch zu schätzen gewusst hätten.
Beatrice lächelte und begann sich auszukleiden, als sie plötzlich
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