Das Rätsel der Fatima
leuchtendem Orange über feuriges Karmesin bis hin zu sattem Purpur. Es sah aus, als hätte ein begnadeter Künstler mehrere riesige Farbtöpfe über den Himmel gegossen und sie nach Lust und Laune ineinander fließen lassen.
Beatrice konnte sich nicht satt sehen an den kräftigen Farben. Sie ließen sie sogar die winterliche Kälte vergessen, die in ihre Wangen biss und unter ihren dichten, mit Fell gefütterten Mantel kroch. Diese Farben waren schön, so schön, dass sie sich nicht vorzustellen vermochte, wie die Natur so etwas Vollkommenes allein hatte hervorbringen können. Hätte sie nicht bereits an Gott geglaubt, spätestens in diesem Augenblick wäre sie nicht mehr in der Lage gewesen, die Existenz eines allmächtigen Schöpfers zu leugnen.
»Das ist…«, begann Beatrice, aber hilflos brach sie ab. Ihr fehlten einfach die Worte für das, was sie sah und fühlte.
»Göttlich«, sagte Dschinkim.
»Ja, genau. Göttlich. Das war das Wort, das ich gesucht habe.«
Sie schwiegen wieder. Dschinkim und Beatrice saßen nebeneinander auf ihren Pferden, so dicht, dass sie sich beinahe an den Knien berührten. Aber nur beinahe. Schweigend sahen sie zu, wie die Sonne langsam hinter dem Horizont verschwand. Doch es war kein unangenehmes Schweigen. Es war, als ob es die fehlende körperliche Berührung zwischen ihnen ersetzte.
»Wir sollten jetzt umkehren«, sagte Dschinkim, als die Sonne verschwunden war und nur noch ihre Farben am Himmel zurückgelassen hatte. »Wenn wir uns beeilen, erreichen wir Taitu noch rechtzeitig, bevor es dunkel ist.«
»Schade. Ich könnte noch stundenlang hier bleiben.«
Dschinkim lächelte. »Und morgen früh würden wir dich dann steif gefroren hier finden. Komm jetzt. Die Nacht wird kalt.«
Sie warf Dschinkim einen kurzen Blick zu. Das Licht der Abenddämmerung ließ sein braunes Gesicht leuchten, als wäre es aus Erz gegossen. Seine grünen Augen strahlten wie Smaragde. War diese sanfte Stimme wirklich dieselbe, die sonst so hart und unnachgiebig klang und vor der die Soldaten auf dem Exerzierplatz zitterten? War dieses schöne, ebenmäßige Gesicht mit den kleinen freundlichen Falten um die Augen wirklich das gleiche, das sonst mit seinem grimmigen Ausdruck der Sonne das Licht stehlen konnte? Sie erinnerte sich noch genau daran, als sie ihn zum ersten Mal gesehen hatte. Damals hätte sie nicht einmal im Traum daran geglaubt, dass sie sich eines Tages zu ihm hingezogen fühlen würde. Damals… eines Tages… Sie maß in Zeiträumen, als würde sie bereits seit mehreren Jahren an Khubilais Hof leben. Dabei waren es, wenn sie genau nachdachte, vielleicht acht, höchstens jedoch zehn Wochen. Eine verdammt kurze Zeit, um ein Leben radikal zu verändern. Trotzdem war es passiert – mal wieder.
»Du hast recht«, sagte Beatrice und schüttelte sich. Sie wollte nicht an den Stein der Fatima, an Zeitsprünge oder gar an ihr wahres Zuhause denken. Nicht jetzt. Jetzt wollte sie genießen und sich der Illusion hingeben, dass das Leben so weiterging, dass Taitu ihre Heimat war und blieb, dass sie dieses Mal niemanden zurücklassen musste. »Wahrscheinlich erwarten sie uns bereits.«
Sie wendeten ihre Pferde und ritten zurück, Seite an Seite. Schweigend. Es war erstaunlich, wie wenig Worte sie brauchten, um einander zu verstehen. Nachdem sie die Tiere in den Stall gebracht hatten, begleitete Dschinkim Beatrice bis zu ihrem Zimmer.
»Bis morgen?«, fragte Beatrice, bevor sie die Tür schloss.
Dschinkim lächelte. »Bis morgen.«
Beatrice ließ langsam die Tür ins Schloss fallen und lehnte sich gegen das Holz. Sie war glücklich. Was machte es schon aus, dass sie einander ihre Liebe noch nicht gestanden hatten? Dass er sie immer noch nicht geküsst hatte? Sie wussten, dass sie zueinander gehörten.
Beatrice fuhr aus dem Schlaf hoch und saß kerzengerade im Bett. Es war dunkel. Es musste mitten in der Nacht sein, und doch war sie sicher, dass etwas sie geweckt hatte, ein Geräusch, ein…
Jemand hämmerte so heftig gegen ihre Tür, als wollte er sie einschlagen.
»Beatrice! Beatrice, wach auf! Schnell!«
Das war doch Toluis Stimme. Sofort warf Beatrice die Decke zurück, schwang sich aus dem Bett und lief mit nackten Füßen so schnell sie konnte zur Tür.
Es war tatsächlich Tolui. Und noch bevor er den Mund aufmachte, wusste sie, dass etwas passiert war. Etwas Furchtbares. »Schnell, Beatrice, du musst kommen, sofort!«
Tolui war völlig außer sich. Seine dichten schwarzen
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