Das Rätsel der Fatima
Haare standen wirr von seinem Kopf ab, und die Kleidung war zerknittert. Sein Hemd war offen, und statt der dazugehörigen Weste trug er nur einen langen Mantel. Was auch immer geschehen war, es hatte ihn so in Panik versetzt, dass er sich noch nicht einmal die Zeit genommen hatte, sich korrekt anzuziehen.
»Was ist?«, fragte sie. »Ist etwas mit dem Khan? Ist er krank geworden?«
Tolui schüttelte den Kopf, Tränen liefen über seine bleichen Wangen. »Nein. Es ist Dschinkim…«
Beatrice fühlte, wie ihr das Blut aus den Wangen wich. Der Boden unter ihren Füßen wurde weich wie Watte, und die Wände und die Decke kamen auf sie zu, als hätten sie vor, sie zwischen sich zu zerquetschen.
»Was hast du gesagt?«, fragte sie.
Viele mongolische Namen klangen ähnlich. Sie hatte diese Sprache zwar überraschend schnell gelernt, aber trotzdem waren ihr viele Feinheiten und Dialekte noch fremd. Wahrscheinlich hatte Tolui gar nicht von Dschinkim, ihrem Dschinkim gesprochen, sondern einen anderen Namen genannt. Sie hatte sich nur verhört. Ja, so war es wohl. Es musste einfach so sein.
»Mein Onkel! Dschinkim, der Bruder meines Vaters!«, antwortete Tolui und machte damit alle Hoffnungen zunichte. Er schluchzte, und seine Schultern bebten. »Ich glaube… ich fürchte… Beatrice, Meister, hilf uns doch! Ich fürchte, er stirbt!«
Beatrice schloss die Augen. Ihr wurde schwindlig. Das darf nicht sein, bitte, lieber Gott, mach, das dies nicht wahr ist! Dass ich träume, dass es ein übler Scherz ist, dass…
Und wenn doch?, meldete sich eine andere Stimme zu Wort. Wenn er wirklich krank ist und im Sterben liegt? Du bist Ärztin. Du solltest wertvolle Zeit nicht mit Spekulationen vertrödeln.
Sie atmete tief durch die Nase ein, um sich zu beruhigen. Wenn es jemals notwendig gewesen war, einen klaren Kopf zu behalten, dann jetzt.
»Ich ziehe mir schnell einen Mantel über. Und dann bringst du mich zu Dschinkim. Vielleicht können wir gemeinsam noch etwas für ihn tun.«
Sie eilte ins Zimmer zurück und riss ihren Mantel vom Stuhl. Flüchtig dachte sie daran, dass sie in eben diesem Mantel gemeinsam mit Dschinkim den Sonnenuntergang betrachtet hatte. Das war erst wenige Stunden her, und da war es ihm, so weit sie es beurteilen konnte, noch gut gegangen. Vor wenigen Stunden… Ihre Hände zitterten so stark, dass sie nicht einmal in der Lage war, den Gürtel zu schließen. Nach zwei erfolglosen Versuchen gab sie es auf. Dafür hatte sie jetzt keine Zeit. Vermutlich war es Tolui nicht anders ergangen.
Gemeinsam mit dem jungen Mongolen lief sie zu Dschinkims Haus. Sie war kurzatmig, das Kind in ihrem Bauch wurde auf und ab gerüttelt und beschwerte sich mit heftigen Fußtritten gegen diese Behandlung. Sie bekam Seitenstechen, und ihre Kehle brannte vor Trockenheit. Aber sie achtete nicht darauf. Sie betete, dass Tolui sich geirrt hatte, dass Dschinkim nicht im Sterben lag, dass sie noch etwas für ihn tun konnte, dass es irgendeine Arznei oder Operation gab, eine Chance, dass ihr etwas einfiel.
Bitte, lass mich nicht zu spät kommen. Bitte!, flehte sie und beschleunigte ihre Schritte so, dass Tolui kaum noch in der Lage war, ihr zu folgen.
»Ist Dschinkim verletzt?«
Tolui schüttelte den Kopf. »Nein.«
»Was ist passiert?«, fragte sie, während sie über einen Platz liefen. Es war mitten in der Nacht. Weit und breit war keine Menschenseele zu sehen. Nur die Sterne funkelten an einem klaren schwarzen Himmel, unschuldig und unbeteiligt, als wäre gar nichts geschehen, als würde Dschinkim nicht in diesem Augenblick in seinen Gemächern liegen und um sein Leben kämpfen.
»Ich weiß es nicht«, sagte Tolui. Er keuchte. Natürlich, er lief diesen Weg schließlich bereits zum zweiten Mal. »Der Diener rief mich kurz nach Mitternacht. Noch am Abend, nachdem er von seinem Ritt zurückgekehrt war, traf ich ihn und habe mit ihm gesprochen. Dschinkim fühlte sich wohl und war bei bester Gesundheit. So schien es mir wenigstens. Und dann hat es mitten in der Nacht ganz plötzlich mit heftigen Leibschmerzen und Krämpfen in den Eingeweiden begonnen. Seitdem hat er seinen ganzen Magen- und Darminhalt von sich gegeben. Und es hört nicht auf.«
Eine Infektion?, fragte sich Beatrice. Oder etwa wieder eine Vergiftung? Aber warum Dschinkim?
Weil er nach der Ursache für Maffeos Vergiftung geforscht hat, beantwortete sie sich die Frage selbst. Und wahrscheinlich ist er dem Täter zu dicht auf der Spur gewesen…
Aber daran
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