Das Rätsel der Fatima
Ahmad sträubte sich gegen diese Berührung, doch der Mongole ließ keine Gegenwehr zu. Unerbittlich zog er ihn zu sich heran, wie eine Spinne ihre Beute an sich zieht, um ihr wehrloses Opfer in einen Kokon einzuspinnen und es später auszusaugen. Senges Stimme senkte sich zu einem kaum hörbaren Flüstern, und doch drang jedes einzelne Wort in Ahmads Gehör und ließ sein Blut in den Adern erstarren wie ein giftiger, tödlicher Hauch. Als Senge fertig war, zitterte Ahmad vor innerer Kälte. Was der Mongole vorschlug, war grausam, heimtückisch, geradezu diabolisch. Aber eines war klar, Senge hatte nicht zu viel versprochen. Dieser Plan würde gelingen. Er war genial.
»Fabelhaft, Senge! Genauso machen wir es«, sagte Marco und nickte. Der Venezianer bemühte sich, kühl und erbarmungslos zu wirken, doch Ahmad erkannte an seinen hochgezogenen Schultern und seiner bleichen Gesichtsfarbe, dass er sich nur verstellte. Auch Marco Polo war das Grauen in die Glieder gefahren. »Und wann wollen wir beginnen?«
Senge lächelte. Es war das Lächeln eines Tigers vor dem Sprung. Und Ahmad fragte sich, wer in diesem Fall die Beute war, Maffeo und Dschinkim oder Marco und er selbst.
»Nun, ich dachte, die Sache wäre dringend und würde keinen Aufschub dulden? Was haltet ihr von morgen?«
»Morgen?!«, riefen Ahmad und Marco wie aus einem Mund. »Aber wir müssen doch erst planen und…«
»Macht euch darüber keine Gedanken«, sagte Senge und klopfte ihnen auf die Schultern wie ein gütiger Großvater, der seine kleinen aufgeregten Enkel beruhigt. »Ich habe schon vorgesorgt. Alles ist bereit. Und jetzt entschuldigt mich. Zur richtigen Zeit werdet ihr wieder von mir hören.«
Er tätschelte ihnen noch einmal die Schultern, dann löste er sich von ihnen. Sprachlos starrten Marco und Ahmad dem Mongolen nach und beobachteten, wie er in der Dunkelheit vor ihnen verschwand. Nur das Geräusch seiner Schritte war noch eine Weile zu hören. Der Plan würde gelingen, daran gab es keinen Zweifel. Dennoch wäre es Ahmad lieber gewesen, sie hätten mehr Zeit gehabt, um sich vorzubereiten. Nun mussten sie sich ganz und gar auf Senge verlassen. Ahmad hatte einen Instinkt für Menschen, die etwas im Schilde führten. Und dieser Sinn, der ihn niemals betrog oder im Stich ließ, meldete sich jetzt. Senge hatte von vornherein alles genau so geplant. Er hatte gewusst, dass Maffeo nicht beim ersten Versuch sterben würde. Sie waren in die vorbereitete Falle getappt. Und ganz gleich, welche dunklen, bösartigen Ziele der Mongole auch verfolgen mochte, Ahmad und Marco steckten jetzt mittendrin. Sie waren dem Mongolen auf Gedeih und Verderb ausgeliefert. Und das gefiel Ahmad nicht, das gefiel ihm überhaupt nicht.
Er seufzte. Der Wunsch, Senge niemals getroffen und um Hilfe gebeten zu haben, kam zu spät. Um etliche Monate. Als er das erste Mal davon erfahren hatte, dass der Venezianer dieses heilige Kleinod besaß, das nur den Gläubigen zustand, meinte er, nicht allein damit fertig zu werden. Er wurde allmählich alt, langsam und ungeschickt. Auch konnte er auf keine Verbündete zurückgreifen. Die waren getötet worden, vor Jahren, als Hülegü – verflucht seien seine Gebeine! – ihren Bund zerschlagen hatte. Er war allein. Aber er hätte es geschafft. Mit Allahs Hilfe wäre es ihm gelungen, den Stein in seinen Besitz zu bringen und endlich die Rache für diesen Frevel zu vollziehen. Es hätte zwar länger gedauert, aber letztendlich hätte er es geschafft. Doch niemals, nicht um alles in der Welt, hätte er sich mit dem Mongolen einlassen sollen. Das wusste er jetzt. Aber leider kam die Reue zu spät.
In diesem Moment rauschte es über ihren Köpfen, als würde ein mächtiger dunkler Vogel über sie hinwegfliegen. Ahmad starrte in den Himmel hinauf, und für einen kurzen Augenblick glaubte er, dort ein riesiges schwarzes Tier zu sehen; keinen Vogel, sondern eher ein schreckliches Ungeheuer mit mächtigen Schwingen und einem langen stachligen Schwanz. Vielleicht war es ein Drache – oder ein Dämon in seiner wahren Gestalt.
Eine Sinnestäuschung?, dachte Ahmad. Oder ist das etwa Senge? Unwillkürlich begann er zu zittern. Und plötzlich wusste er, dass er bereit war zu glauben, was er gesehen hatte – nämlich Senge in seiner wahren Gestalt, einen mächtigen Zauberer, einen Dämon. Hier in diesem seltsamen Land war wirklich alles möglich.
Die untergehende Sonne übergoss den klaren Himmel mit allen erdenklichen Rottönen, von
Weitere Kostenlose Bücher