Das Rätsel der Fatima
Wärme. »Ich möchte dir noch etwas sagen, Beatrice. Jetzt, bevor es zu spät ist und ich keine Kraft mehr habe. Ich bitte dich um Vergebung. Anfangs hielt ich dich für eine Hexe, für einen Feind. Deine Schönheit, deine Klugheit – das alles war in meinen Augen verdächtig. Erst spät habe ich begriffen, dass die Götter mir ein Geschenk gemacht haben. Leider zu spät. Trotzdem bin ich für jede Stunde dankbar, die ich mit dir verbringen konnte.«
»Sag so etwas nicht, Dschinkim«, entgegnete Beatrice sanft und strich ihm das feuchte Haar aus der Stirn. »Es ist noch nicht zu spät. Wir werden noch so viel Zeit füreinander haben.«
Doch im Grunde wusste sie, dass Dschinkim recht hatte. Er würde sterben. Sein Gesicht war das Antlitz des Todes. Sie presste die Lippen aufeinander. Nicht weinen, nicht jetzt! Vielleicht konnte sie doch noch etwas für ihn tun. »Sprich jetzt nicht, sondern gib mir Zeichen. Das strengt dich weniger an. Du hast Schmerzen?«
Dschinkim nickte und lächelte dabei, zärtlich, wehmütig.
»Du bist eine tapfere Kriegerin. Du stehst in der Schlacht, selbst wenn alle anderen um dich herum geflohen sind. Du und ich, Seite an Seite – wir zwei wären stark. Aber diesen Kampf haben wir beide verloren. Ich kehre nach Shangdou zurück.«
»Bitte, Dschinkim, sag das nicht.« Beatrice versuchte immer noch, die Tränen zurückzuhalten. Niemals am Krankenbett weinen. Das galt auch für Menschen, die man liebte. »Wo hast du Schmerzen?«
Doch bevor er antworten konnte, verzerrte sich sein Gesicht. Er krümmte sich zusammen und erbrach sich mitten auf Beatrices Schoß. Gleichzeitig spritzte wässrige Flüssigkeit aus seinem Darm.
»Es tut mir leid«, flüsterte er, als der Anfall vorüber war. Tränen liefen über seine Wangen, und erneut verbarg er vor lauter Scham sein Gesicht. Er zitterte heftig, so heftig, dass er seine Hände kaum mehr unter Kontrolle hatte. »Das ist eines Kriegers unwürdig.«
»Gar nichts muss dir leid tun«, sagte Beatrice und wischte ihm die Schweißperlen von der Stirn. »Genau aus diesem Grunde bin ich hier.«
»Versprich mir, dass du nicht an diesen jämmerlichen, verfallenden Körper denkst, wenn du dich eines Tages an mich erinnerst.«
»Dschinkim, ich…«
Er hob mühsam seinen Kopf, seine Stimme war kaum noch zu verstehen.
»Bitte.«
Beatrice schluckte. Ihre Augen brannten, doch immer noch gelang es ihr, die Tränen zurückzuhalten.
»Ich verspreche es dir.«
Dschinkim schloss die Augen und ließ seinen Kopf zurücksinken. Seine Lippen formten noch Worte, doch sie konnte sie nicht mehr hören. Vielleicht galten sie aber auch den Göttern.
Starkes Erbrechen, wässriger Durchfall – Hunderte von möglichen Diagnosen gingen Beatrice durch den Kopf. War es Cholera? Vielleicht. Doch dann fiel ihr ein, dass es diese Krankheit erst seit dem 19. Jahrhundert gab. Die Mutation eines bis dahin harmlosen Bakteriums hatte zu der gefährlichen Krankheit geführt. Also Cholera kam nicht infrage. Eine andere bakterielle Gastroenteritis? Vielleicht irgendein ekelhafter Parasit, den sie nicht kannte? Oder doch eine Vergiftung? Hoffentlich kam Li Mu Bai bald. Auf alle Fälle musste sie etwas gegen den erheblichen Flüssigkeitsverlust tun, um einen drohenden Schockzustand zu verhindern. Dem schwachen, schnellen Puls nach zu urteilen, war er davon nicht mehr weit entfernt.
»He, du!«, rief sie und winkte einen Diener herbei. »Hol sofort Wasser. Es muss salziges Wasser sein, in dem Reis gekocht wurde. Wir brauchen es in großen Mengen, am besten einen ganzen Kessel voll.«
Der Diener sah sie mit großen Augen an.
»Aber Herrin, es ist Nacht. Woher soll ich da…«
»Du meine Güte! Wenn es jetzt kein Reiswasser gibt, dann kochst du eben welches. Es sollte doch wohl möglich sein, mitten in China Reis, Salz und einen großen Topf aufzutreiben?«
»Natürlich, Herrin, ich werde…«
»Worauf wartest du dann noch? Los, beeil dich!«
Der Diener sprang hoch wie eine aufgeschreckte Maus und lief aus dem Zimmer, als wäre der Teufel persönlich hinter ihm her.
»Was fehlt meinem Onkel?«, fragte Tolui schüchtern. Beatrice seufzte. Sie versuchte, sich zu konzentrieren, sich abzulenken. »Ich weiß es noch nicht«, gestand sie und wischte mit einem der herumliegenden Kleidungsstücke ihren Mantel notdürftig sauber. Einer der Gründe, weshalb Ärzte und Pflegepersonal auf der Notaufnahme Plastikschürzen benutzten. Die konnte man anschließend einfach wegwerfen. »Zuerst
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