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Das Rätsel der Fatima

Das Rätsel der Fatima

Titel: Das Rätsel der Fatima Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Franziska Wulf
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verdrängt hatte. Minute um Minute, Stunde um Stunde hatte sie den Verfall dieses starken, unbeugsamen Mannes miterlebt. Sie hatte gespürt, wie sein Herzschlag immer unregelmäßiger geworden war. Und sie hatte gehört, wie seine Atemzüge immer tiefer und seltener kamen – bis sie schließlich ganz aufgehört hatten. Und dann war mit seinem letzten Atemzug auch ein Teil von ihr gestorben. Es gab kein Zurück mehr.
    Vorsichtig berührte sie Dschinkims Stirn. Sie war kalt. Eisig kalt. Sanft streichelte sie über seine kühlen Wangen, fuhr mit dem Finger die Konturen seines Gesichts entlang – die Form seiner Brauen, die leicht gebogene Nase, das kräftige Kinn, die Falten um Mund und Augen. Es war Zeit, Abschied zu nehmen, endgültig. Beatrice beugte sich vor und küsste ihn. Seine Lippen waren kalt, gefühllos. Trotzdem bildete sie sich ein, dass er ihren Kuss spürte, dass seine unsterbliche Seele ihn erwiderte. Sie küsste ihn noch einmal und zeichnete mit dem Finger seine vollen Lippen nach. Diese Lippen, deren Wärme sie so gern gespürt hätte, wenigstens ein Mal. Es war zu spät.
    Beatrice sah auf. Sanft und allwissend vor sich hin lächelnd, blickte die im Lotussitz verharrende Buddhastatue auf sie herab. Sie wusste nicht, ob Dschinkim Buddhist gewesen war. Aber selbst wenn er immer noch zu den Göttern seiner Ahnen gebetet hatte, den Göttern der Steppe und des Windes, so war es gut und richtig, dass man ihn hierher gebracht hatte. Sie war sicher, dass Dschinkim damit einverstanden war. Dieser Tempel gab ihm wenigstens im Tod die Ruhe und den Frieden, die ihm im Leben gefehlt hatten. Beatrice warf noch einmal einen Blick auf sein schönes, eindrucksvolles Gesicht, streichelte ein letztes Mal seine Wangen und seine Hände. Ein allerletztes Mal. Dann ging sie.
    Beatrice stand vor den Toren des Tempels und beobachtete die Menschen auf der Straße unter ihr. Zu Pferd, zu Fuß oder mit Wagen hetzten, schoben und drängelten sie sich, als läge das Ziel am Ende der Straße und der Preis für den Sieger wäre ein immerwährendes Glück. Es war erstaunlich, dass das Leben hier seinen ganz normalen Rhythmus hatte. Eigentlich hätte die Zeit stehen bleiben müssen.
    Die Sonne ging gerade unter. Und plötzlich, noch während Beatrice die Stufen hinabstieg, entstand ein Bild vor ihren Augen. Sie sah die Steppe, die Steppe vor den Toren von Shangdou. Die Sonne versank als blutroter Ball hinter dem Horizont und tauchte das weite grasbedeckte Land in ihr rotgoldenes Licht. Die Türme Shangdous erstrahlten, durchsichtig wie goldeingefasstes Glas. Ein einzelner Reiter galoppierte über die Hügelkuppe auf die Stadt zu. Er sah aus wie ein mongolischer Krieger. Seine Rüstung strahlte silbern und funkelte in der Sonne. Er kam Shangdou immer näher. Und dann sah Beatrice, dass sich die Tore der Stadt langsam öffneten und hinter dem Reiter wieder schlossen.
     
     
    Beatrice war froh, als die Tür zu ihrem Gemach hinter ihr ins Schloss fiel. Mühsam, Meter für Meter hatte sie sich vom Tempel hierher in den Palast zurückgeschleppt. Der Schmerz, der sie noch vor Kurzem hell und scharf durchbohrt hatte, war verschwunden. Die friedliche Atmosphäre des Tempels hatte ihn beseitigt. Zurückgeblieben war eine Leere, ein Vakuum, ein schwarzes Loch in ihrer Seele.
    Ohne sich zu entkleiden, ließ Beatrice sich auf ihr Bett fallen. Jen zog ihr die Schuhe von den Füßen, aber sie merkte es kaum. Es war, als würde die junge Dienerin jemand anderen entkleiden, eine Fremde, deren Körper nicht zu ihr gehörte. Sie spürte nichts mehr – keinen Schmerz, keine Angst, keine Wut, nur noch Müdigkeit und Leere. Es war, als würde sie gerade aus einer Narkose erwachen. Sie schloss die Augen.
    Ein Geräusch drang an ihr Ohr, ein Pochen, ein Klopfen. Vielleicht war es ihr eigener Herzschlag, der in ihren Ohren dröhnte und den sie am liebsten abgestellt hätte. Wieso schlug ihr Herz noch, wenn Dschinkim tot war? Das war ein übler Scherz.
    Nach einer Weile registrierte sie, dass das Klopfen aufgehört hatte. Trotzdem lebte sie immer noch, atmete. Irgendwo in einem Teil ihres Hirns regte sich der Gedanke, dass sie gar nicht ihren Herzschlag gehört, sondern dass jemand an die Tür geklopft hatte. Jemand, der etwas von ihr wollte. Sie versuchte, Jen zu sagen, dass sie niemanden empfange, doch ihre Zunge lag unbeweglich in ihrem Mund, dick und unförmig wie ein Klumpen Knetmasse.
    Jemand zog und rüttelte an ihrem Arm und rief ihren Namen. Nur

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