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Das Rätsel der Fatima

Das Rätsel der Fatima

Titel: Das Rätsel der Fatima Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Franziska Wulf
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Geruch…«
    »Welcher Geruch?«
    »Ist er dir etwa nicht aufgefallen? Der Bruder des Kaisers ist umgeben von einem durchdringenden, schon beinahe süßlichen Geruch. Er erinnert mich an den Geruch ungekochter Schweineleber.«
    »Schweineleber?« Beatrice spürte, wie sich ihr Magen zusammenzog. Wenn das wirklich zutraf… »Mir ist nichts aufgefallen. Vielleicht hast du dich getäuscht.«
    Hoffentlich, fügte sie in Gedanken hinzu.
    Sie kniete sich sofort neben Dschinkim nieder und roch an ihm. Natürlich hatte Li Mu Bai sich nicht geirrt, so sehr sie es sich auch gewünscht hatte. Da war wirklich der erdige Geruch von frischer, roher Leber, den sie vorher bei ihrer Untersuchung nicht wahrgenommen hatte – oder vielleicht auch nicht hatte wahrnehmen wollen. Sie schloss die Augen und versuchte krampfhaft, nicht ohnmächtig zu werden. Vor ihrem Geist tauchte das Bild eines Mannes auf, ein Patient, der vor einiger Zeit in die Notaufnahme eingeliefert worden war. Es war ein hagerer Mann mit einem dicken, aufgetriebenen Bauch, kleinen spinnenartigen roten Flecken im Gesicht, fleischig roten Lippen und gelben Augäpfeln. Jener Patient hatte eine Leberzirrhose im Endstadium und war nur wenige Tage nach seiner Einlieferung infolge des fortschreitenden Leberversagens auf der Intensivstation verstorben. Dieser Mann hatte bei seiner Einlieferung genauso gerochen wie Dschinkim jetzt. Aber das durfte nicht sein! Jener Patient war zweiundsiebzig gewesen, er war ein Alkoholiker, ein Säufer, der bereits mehrere Entziehungskuren erfolglos abgebrochen hatte. Er war schon lange nicht mehr gesund gewesen. Er hatte nicht wie Dschinkim mitten im Leben gestanden. Und – sie hatte ihn nicht geliebt.
    Doch sie konnte es drehen und wenden, wie sie wollte. Dieser penetrante Geruch war ein eindeutiger Hinweis auf den beginnenden Zerfall der Leber, ein unverwechselbares Merkmal und gleichzeitig das Todesurteil. Denn sollte Dschinkim wirklich an akutem Leberzerfall leiden, so konnte ihn nur intensivmedizinische Betreuung retten – die Möglichkeit von Infusionen, Dialyse, künstlicher Beatmung. Und selbst dann stünden seine Überlebenschancen schlecht.
    »Das darf einfach nicht wahr sein«, sagte Beatrice und raufte sich die Haare.
    Sie wusste nicht, ob sie weinen oder schreien sollte. Wenn es etwas gab, wovor sie sich in ihrer Tätigkeit als Ärztin immer gefürchtet hatte, so war es diese Hilflosigkeit. Am Bett eines Patienten stehen zu müssen, ohne etwas tun zu können. Nie zuvor war sie in einer vergleichbaren Situation gewesen. Selbst in Buchara war ihr immer noch etwas eingefallen, um wenigstens die Leiden des Patienten zu lindern, wenn es schon keine Aussicht auf Besserung oder gar Heilung gab. Dass es jetzt ausgerechnet Dschinkim treffen musste, dass er der erste Patient war, für den sie nichts tun konnte, gar nichts, das war eine mehr als grausame Laune des Schicksals. Es war boshaft, gemein, unfair.
    »Mach dir keine Vorwürfe«, sagte Li Mu Bai leise und legte ihr eine Hand auf die Schulter. »Selbst der weiseste Arzt steht machtlos daneben, wenn die Lebensenergie eines Menschen erlischt. Das ist der Kreislauf der Dinge, dem wir nur durch Meditation entrinnen können. Dich trifft keine Schuld.«
    Doch Beatrice schüttelte den Kopf. Sie war keine Buddhistin. Sie konnte sich nicht einfach mit dem Schicksal abfinden und sich mit der Hoffnung abspeisen lassen, dass eine Wiedergeburt bevorstand, die Dschinkim vielleicht dem erlösenden Nirwana näher bringen würde. Sie war es gewohnt, zu kämpfen. Sie musste herausfinden, wodurch Dschinkim vergiftet worden war. Vielleicht gab es doch ein Heilmittel, ein Gegengift, das die Chinesen nicht kannten, weil es aus Europa stammte. Etwas, das das Unvermeidliche aufhielt oder sogar abwendete. So war es schließlich auch bei Maffeo gewesen. Und warum sollte es bei Dschinkim anders sein? Es war nur ein winziger Strohhalm.
    Aber besser als gar keine Hoffnung, dachte sie. Heulen kannst du immer noch. Und dann kannst du dir wenigstens sagen, dass du nichts unversucht gelassen hast.
    Energisch wischte sie sich die Tränen vom Gesicht und zog Tolui am Ärmel zu sich heran.
    »Welcher Diener kümmert sich um die Speisen, die Dschinkim zu sich nimmt?«
    »Diener?«, flüsterte er. »Welcher Diener?«
    Tolui wirkte wie betäubt. Beatrice wusste nicht, ob er etwas von dem Gespräch zwischen ihr und Li Mu Bai gehört hatte. Zumindest ahnte er, worum es dabei gegangen war. Das zeigte deutlich sein

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