Das Rätsel der Fatima
verstörtes bleiches Gesicht.
»Ich will ehrlich zu dir sein, Tolui«, sagte sie und nahm all ihre Kraft zusammen. Es half niemandem, wenn sie jetzt in Tränen ausbrach, am allerwenigsten Dschinkim. »Es geht deinem Onkel sehr schlecht. Li Mu Bai ist fest davon überzeugt, dass er sterben wird. Aber…« Tolui begann zu weinen, und Beatrice schluckte.
Nicht jetzt, ermahnte sie sich. Du darfst jetzt nicht schlappmachen.
»Ich bin noch nicht bereit aufzugeben.« Sie packte Tolui bei den Schultern. »Hörst du? Sieh mich an!«
Gehorsam hob er den Kopf und wandte ihr sein tränennasses Gesicht zu.
»Solange Dschinkim noch atmet, gibt es eine Chance, und sei sie noch so gering. Wo Leben ist, ist Hoffnung. Darum ist es wichtig, dass wir so schnell wie möglich herausfinden, was Dschinkim seit gestern Abend gegessen und getrunken hat. Vielleicht gibt es doch ein Heilmittel.« Sie nahm Tolui in die Arme und drückte ihn fest an sich. »Ich gebe Dschinkim nicht kampflos auf, und ich bin sicher, dass du das auch nicht willst. Wirst du mir helfen?«
Tolui nickte.
»Gut. Aber dafür brauche ich deinen klaren Verstand. Du musst dich jetzt zusammenreißen, Tolui.«
»Ja«, sagte er. »Das werde ich.«
Seine Stimme zitterte zwar, aber sein Blick war fest. Er wischte sich mit dem Ärmel seines Mantels über das Gesicht.
»Taijin«, sagte er und deutete auf einen kleinen Mann, der beinahe ebenso breit wie groß war. »Er allein kümmert sich um Dschinkims Mahlzeiten. Er besorgt die Lebensmittel und bereitet die Speisen auch eigenhändig zu. Wenn er nicht weiß, was Dschinkim in den vergangenen Tagen zu sich genommen hat, so weiß es niemand auf dieser Welt.«
»Befrage du ihn«, sagte Beatrice. »Dir gegenüber wird er sicher offener sein. Frag ihn auch nach der Herkunft der Nahrungsmittel, nach den Gewürzen und der Art der Zubereitung und ob noch weitere Personen Zugang zu Dschinkims Speisen hatten. Jede noch so unbedeutend erscheinende Einzelheit kann dabei wichtig sein. Ach ja«, Beatrice sah Tolui an, »erkundige dich auch nach dem Geschirr. Ich muss wissen, wie und von wem es gereinigt wird.«
Tolui nickte und verbeugte sich. »Jawohl, Meister. Und was wirst du in der Zwischenzeit tun?«
»Ich werde solange bei Dschinkim bleiben.«
Beatrice breitete eine Decke über Dschinkim und setzte sich neben ihn auf den Boden.
Sie war sich bewusst, dass sie zurzeit kaum mehr tun konnte, als seine kraftlose, schwielige Hand zu halten. Trotzdem brachte sie es nicht übers Herz, ihn auch nur eine Minute länger allein zu lassen.
Er war mittlerweile bewusstlos. Wenn er sich gerade jetzt übergab, konnte er daran ersticken. Außerdem konnte jeden Augenblick der Diener mit dem Reiswasser zurückkommen. Beatrice seufzte und versuchte eine halbwegs bequeme Position für sich zu finden. Sie hatten nicht mehr viel Zeit. Bald würde Dschinkim ins Leberzerfallskoma hinübergleiten, und dann blieben ihnen nur noch wenige Stunden.
Mit lautem Gepolter schleppte der Diener endlich einen großen Kessel herbei. Die milchigweiße, dampfende Flüssigkeit schwappte über, und mehrfach hörte Beatrice den Mann leise fluchen, da er sich offensichtlich verbrüht hatte.
»Stell den Kessel hier neben mir auf!«, rief sie ihm zu. Sie war erleichtert, dass sie endlich aus ihrer passiven Rolle befreit wurde, dass sie endlich etwas tun konnte, und sei es auch noch so hoffnungslos.
Beatrice füllte einen Becher mit dem Reiswasser, hob Dschinkims Kopf an und hielt ihm den Becher an die Lippen. Doch nichts geschah. Er rührte sich nicht.
Sie schüttelte ihn, sie klopfte ihn auf die Wangen.
Nichts.
Beatrice spürte, wie ihr Mund trocken wurde.
Nein, dachte sie. Bitte nicht…
Langsam streckte sie ihre Hand aus, griff nach der Haut über Dschinkims Brustbein, hob sie und drehte sie einmal im Uhrzeigersinn.
Nichts.
Sie kniff Dschinkim in die Nasenscheidewand.
Immer noch nichts.
Wie in Trance hob sie eines seiner Beine an und schlug mit der Handkante auf die Sehne unterhalb der Kniescheibe.
Nichts.
Beatrice schloss die Augen und legte eine Hand vor den Mund. Ihr wurde schlecht. Der Boden unter ihren Füßen wankte, verschwand. Die Welt um sie herum wurde schwarz, und trotzdem glitt sie nicht in die wohltuende Dunkelheit hinab. Eine grausame Hand hielt sie an der Oberfläche des Bewusstseins, als wollte ein abscheulicher Dämon ihr ins Gesicht lachen, sie verhöhnen und ihr sagen: Komm, bleib doch wach, sieh dir doch an, wie der Mann, den du
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