Das Rätsel der Fatima
Mord wollte sich gerade in Nichts auflösen, als sie eine neue Idee hatte. Sie nahm das dichte, zu einem langen Zopf geflochtene schwarze Haar des Dieners beiseite. Und tatsächlich…
»Na also!«
Tolui sah sie verständnislos an. Beatrice vermochte ein Lächeln nicht mehr zu unterdrücken, so unpassend es angesichts der Leiche vor ihr auch war. Sie hätte jubeln können. Dies war der Beweis, nach dem sie gesucht hatte. Der Beweis, dass Maffeo Dschinkim nicht getötet hatte, sondern dass das Ganze nichts weiter als eine überaus geschickt eingefädelte Intrige war.
»Siehst du diese Wunde direkt unter seinem Haaransatz?«, fragte sie und deutete auf die Stella. Es war kaum mehr als ein kleiner dunkler Punkt. Ein Fleck, den man bei oberflächlicher Betrachtung leicht für ein Muttermal halten konnte. Aber es war Blut. Dunkles, getrocknetes Blut. »Wenn du einen Menschen schnell töten willst, musst du dein Messer dorthin stechen, direkt zwischen Schädel und ersten Halswirbel. Damit durchtrennst du das Stammhirn, und der Mensch stirbt innerhalb kürzester Zeit, ohne jemals die Chance zu haben, sich zu wehren. Er ist nicht einmal mehr in der Lage, zu schreien.«
»Aber diese Wunde ist so klein!«, wandte Tolui ungläubig ein. »Wie kann so ein winziger Stich…«
»Der menschliche Körper ist viel zerbrechlicher, als es den Anschein hat. Für einen Mord wie diesen braucht man kein Schwert. Ein Stichwerkzeug vom Durchmesser meines kleinen Fingers ist völlig ausreichend. Natürlich muss man die Stelle kennen. Und das, Tolui, kann nur eines bedeuten.« Sie sah ihn triumphierend an. »Wer auch immer das getan hat, ist ein Profi. Derjenige wusste ganz genau, was er tut und wie er es tun muss, damit es nicht auffällt. Und das beweist, dass Maffeo unschuldig ist.«
Tolui atmete heftig. Es schien, als würde er mit sich kämpfen, zwischen seiner Überzeugung und Beatrices Argumenten hin und her schwanken. Doch schließlich erwiderte er ihren Blick.
»Lass uns gehen«, sagte er. »Wir müssen auf der Stelle mit meinem Vater sprechen.«
Ohne Verzögerung wurden sie zu Khubilai vorgelassen, und der Khan empfing sie tatsächlich. Beatrice erschrak, als sie ihn sah. Innerhalb weniger Stunden war Khubilai um Jahre gealtert. Alt und grau sah er aus. Gebückt saß er auf seinem Thron, seine Augenbrauen zuckten nervös.
Kein Wunder, das Schicksal hat diesen Mann hart geschlagen, dachte Beatrice. Sein Bruder ist tot. Ermordet von einem seiner besten Freunde, einem seiner engsten Vertrauten – das glaubt er wenigstens. Und das, obwohl sein Bruder ihn immer vor allzu großer Leichtgläubigkeit gewarnt hatte. Neben der Trauer um Dschinkim macht er sich bestimmt schwere Vorwürfe, weil er nicht auf ihn gehört hat.
»Was wollt ihr?«, fragte Khubilai. Seine Stimme war nur ein Schatten ihrer selbst. Sie klang kraftlos wie die eines gebrochenen uralten Mannes. »Lasst mich allein. Ich will mit niemanden sprechen.«
»Aber Vater, wir…«
»Schweig!«, donnerte Khubilai. Sein Gesicht war gramerfüllt. »Sieh dich doch um!« Er sprang von seinem Thron auf und lief kreuz und quer durch den Saal, vorbei an Tischen, Truhen und Kommoden, auf denen sehr geschmackvoll Objekte der unterschiedlichsten Art platziert waren. »Schätze! Alles Schätze, die Untertanen aus der ganzen Welt in meinem Namen zusammengerafft haben.« Er nahm einen merkwürdig ausschauenden Dolch in die Hand und schleuderte ihn fort. »Der Opferdolch des Abraham! Ein Zahn des Gautama Buddha!« Er warf die schlichte Holzkiste gegen die Wand.
»Was haben mir all diese Schätze genutzt? Was haben sie mir eingebracht? Weisheit? Frieden? Nein. Ich sage euch, sie haben mir nichts gebracht. Gar nichts! In meinem Wahn, ein Reich zu gründen für alle Menschen, für alle Religionen, habe ich vergessen, was der Mensch in Wirklichkeit ist: ein habgieriges, von Bosheit und Hinterlist durchdrungenes Ungeheuer. Hier…« Er rannte zu einem der Tische. »Da steht es, das Öl vom Grabe Jesu Christi!« Er hielt die kleine Phiole einen Augenblick in seiner Hand und betrachtete sie angeekelt. »Überreicht vom Mörder meines Bruders!« Er schmetterte die Flasche auf den Boden, sodass das Glas in tausend Scherben zersprang und das Öl überallhin spritzte.
»Vater!«, rief Tolui aus. Er lief auf den Khan zu und warf sich vor ihm auf die Knie. Tränen liefen über seine Wangen. »Vater, ich bitte dich, halt ein. Ich…«
Khubilai legte Tolui eine Hand auf den Kopf.
»Nenne mich
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