Das Rätsel der Fatima
der wenigen Stunden zwischen Sonnenauf- und Sonnenuntergang zurücklegen zu können, galoppierten sie ohne Pause über die Hügel. Lediglich zur Mittagszeit machten sie eine kurze Rast, um den Tieren eine Atempause zu gönnen und sich selbst zu stärken. Beatrice kam sich vor, als würde sie an einem mehrtägigen Querfeldeinrennen teilnehmen.
Von Tag zu Tag wurde es kälter. Ein eisiger Wind wehte ihnen ins Gesicht. Und je weiter sie nach Norden vordrangen, umso mehr mischte sich Eis mit hinein, das in die Haut stach wie winzige Nadeln. Beatrice fror. Trotz der dicken, mit Fell gefütterten Fäustlinge waren ihre Hände steif vor Kälte. Und abends war es sogar noch schlimmer. Jeden Abend machte Tolui ein Feuer, das so winzig war, dass es gerade mal die Dunkelheit, aber kaum die Kälte vertreiben konnte. An diesem Feuer saßen sie dicht nebeneinander, aßen Dörrobst und Trockenfleisch, das nach Handschuhleder schmeckte und zäh wie Schuhsohlen war, und tranken dazu schales, abgestandenes Wasser. Nach jeder Mahlzeit betete Beatrice inständig darum, dass die Krüge und Beutel in den Verstecken fest verschlossen und für Ratten und anderes Getier unzugänglich gewesen waren. Und jeden Abend und jeden Morgen rechnete sie mit Fieber, Magen- und Darmkrämpfen.
Nachdem sie ihr karges Mahl verzehrt hatten, legten sie sich in dem kleinen Reisezelt schlafen. Es hatte zwar den Vorteil, dass es leicht zu transportieren und aufzubauen war, aber es war kaum mehr als eine der sogenannten »Strandmuscheln« – jene kleinen halbrunden Zelte, die man im Sommer gehäuft an den Stränden der Ostsee zu sehen bekommt. Eine Strandmuschel mit einem Vorhang aus Fell. Das Zelt war so klein, dass sie sich noch nicht einmal richtig ausstrecken konnten. Und sie lagen so eng nebeneinander, dass es keinem von beiden möglich war, sich umzudrehen, ohne dabei den anderen zu stören. Tolui schien das nicht zu merken. Er schlief, kaum dass er sich hingelegt hatte. Doch Beatrice fand nur wenig Schlaf, obwohl sie so müde und erschöpft war von dem anstrengenden Ritt, dass sie sich fast nicht mehr auf den Beinen halten konnte. Immer wieder wachte sie auf und lag dann lange Zeit mit offenen Augen und angewinkelten Beinen auf dem Rücken und traute sich nicht einmal, sich umzudrehen. Regungslos lauschte sie Toluis gleichmäßigen tiefen Atemzügen, spürte die Bewegungen ihres Kindes und versuchte, nicht an ihre heftig schmerzende Wirbelsäule, Wadenkrämpfe und Atemnot zu denken, weil das Kind auf das Zwerchfell drückte. Bis sie dann endlich wieder für kurze Zeit einschlief.
Wenn sie so wach lag und die Winterstürme an den Zeltwänden rüttelten, fragte sie sich, weshalb Maffeo ausgerechnet sie auf diese Reise geschickt hatte. Hätte Tolui nicht allein den Stein holen und nach Taitu bringen können? Sie war schwanger! Wenn sie Pech hatte, würde das Kind hier, irgendwo im Nichts, mitten in der Steppe in dieser eisigen, zugigen Strandmuschel zur Welt kommen. Fernab von frischem Wasser, warmer Kleidung und medizinischer Hilfe. Beatrice überlegte, ob sie Tolui vorsichtshalber in die Grundlagen der Geburtshilfe einweisen sollte. Aber obwohl alle Argumente, gute Argumente, dafür sprachen, tat sie es doch nicht. Warum sie sich letztlich dagegen entschied, entzog sich sogar ihrer eigenen Kenntnis. Vermutlich war es nichts anderes als kindischer Aberglaube, die Vorstellung, dass ein Ereignis nicht eintrifft, solange man nicht laut darüber spricht. Vielleicht lag es aber auch an der Schriftrolle, die sie auf dem Markt von der alten Chinesin bekommen hatte. Als sie aufgebrochen waren, hatte Beatrice das Stück Papier wieder in der Manteltasche gefunden. Sie hatte es dort vergessen. Zögernd hatte sie die Schnur entfernt und sich gefragt, ob sie es nicht besser wegwerfen sollte. Doch wie meistens hatte die Neugier gesiegt. Auf dem kleinen, kaum fünf mal fünf Zentimeter großen Papier waren nur zwei Schriftzeichen zu sehen. Beatrice kannte sich in der chinesischen Schrift nicht aus, und doch machten sie auf sie den Eindruck, als wären sie hastig hingekritzelt worden. Als sie Tolui das Papier am Abend im Zelt gezeigt hatte, hatte er mit den Schultern gezuckt.
»Man kann es nur schwer lesen«, hatte er gesagt. »Das erste sieht aus wie das Zeichen ›Jie‹. Das heißt so viel wie ›Der grollende Donner und der nährende Regen offenbaren sich‹. Sofern die Alte das Orakel des I Ging befragt hat, hat es irgendetwas mit Gewalt zu tun. Und das zweite
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