Das Rätsel der Fatima
scheint das Zeichen ›Ji Ji‹ zu sein. Es bedeutet ›Das furchtlos fließende Wasser wird von der feurigen Lebenskraft genährt‹.
Wenn ich mich richtig erinnere, so kann man es so auslegen, dass man einen Fluss überquert oder die letzte Stufe der Leiter im Ungewissen liegt.«
Draußen hatte der Wind geheult, und im Zelt war es Beatrice plötzlich kalt geworden. Noch kälter als zuvor.
»Glaubst du, dass an diesem Orakel etwas Wahres dran ist?«, hatte sie Tolui gefragt.
Der junge Mongole hatte wieder mit den Schultern gezuckt. »Das I Ging ist eine seltsame Sache. Die Chinesen sind seltsam. Sie schwätzen viel zu viel. Außerdem gibt es unter Wahrsagern, Schamanen und Magiern viele Scharlatane, die nichts von ihrem Handwerk verstehen und den ahnungslosen Ratsuchenden nur das Geld aus der Tasche locken wollen. Doch ich gebe zu, dass man nie wissen kann, an wen man gerät. Allerdings würde ich mir an deiner Stelle nicht den Kopf darüber zerbrechen. Vielleicht wollte sich die Alte nur einen Scherz mit dir erlauben. Chinesen sind so.«
Er lächelte Beatrice an und legte ihr eine Hand auf den Arm. Trotzdem kam es ihr so vor, als wollte er sie nur trösten. So wie es manche Ärzte tun, wenn sie einem durch Unfall Querschnittsgelähmten sagen: »Kopf hoch, das wird schon wieder.«
In jener Nacht hatte sie überhaupt nicht schlafen können. Immer wieder hatte sie an das kleine Stück Papier und die seltsamen Zeichen denken müssen. Es klang so, als hatte die Alte ihr mitteilen wollen, dass sie im Laufe der nächsten Zeit eines gewaltsamen Todes sterben würde. Und auf diese Erkenntnis hätte sie gern verzichtet.
Zehn Tage waren sie mittlerweile unterwegs. Beatrice fragte sich, wie weit sie wohl noch reiten mussten. Inzwischen war sie in der vierzigsten oder einundvierzigsten Woche schwanger. Die Wahrscheinlichkeit, dass sie ihr Baby hier in der Steppe zur Welt bringen würde, vergrößerte sich mit jedem Tag, den sie sich weiter von Taitu entfernten. Im Grunde genommen war es ohnehin ein Wunder, dass durch die Anstrengungen nicht schon längst die Wehen eingesetzt oder die ständigen Erschütterungen die Fruchtblase nicht bereits zum Platzen gebracht hatten. Sie konnte nur hoffen, dass sich das Kind rechtzeitig in die Schädellage drehen würde, um eine weitgehend komplikationslose Geburt zu gewährleisten. Aber sie rechnete nicht damit. Wie sie ihr Glück kannte, würde sie das Kind in Steißlage zur Welt bringen müssen. Was hatten die Schriftzeichen gesagt? Gewalt und ein Lebensweg ins Ungewisse. Vielleicht war damit ja ein Kaiserschnitt ohne Narkose und sterile Bedingungen, durchgeführt von einem Unerfahrenen, gemeint.
»Gleich sind wir da«, sagte Tolui und deutete auf einen Hügel, der sich in etwa fünfhundert Metern Entfernung vor ihnen erhob. »Dort ist das Grab meines Urgroßvaters, dem Ahnen meiner Sippe, dem großen Herrscher Dschingis Khan.«
Beatrice strengte ihre Augen an. Die Dämmerung setzte allmählich ein, leichter Schneefall behinderte die Sicht. Trotzdem glaubte sie, dass nicht die Witterung schuld daran war, dass sie nichts erkennen konnte. Wo Tolui hinzeigte, gab es kein Gebäude, nichts, das einem Grabmal ähnlich war. Dort war nur der Hügel. Zugegeben, er war vielleicht der höchste in der Umgebung, aber ansonsten ebenso baumlos und grasbewachsen wie alle anderen Hügel, die sie in den vergangenen Tagen überquert hatten. Doch vielleicht konnte sie das Grab auch nur deshalb nicht sehen, weil es sich auf der ihnen abgewandten Seite des Hügels befand.
»Komm, Beatrice«, sagte Tolui und spornte sein Pferd erneut an. »Ich kann es kaum noch erwarten.«
Beatrice folgte ihm, getrieben von der Aussicht, dass ihre beschwerliche Reise nun endlich ein Ende fand und sie am Ziel angekommen waren. Bald, spätestens morgen, würde sie den Stein der Fatima in ihrer Hand haben. Sie würden nach Taitu zurückkehren, den Mord an Dschinkim aufklären und Maffeo aus dem Kerker befreien. Und dann würde alles wieder gut werden. Sie würde ihr Kind zur Welt bringen, unterstützt von Li Mu Bai, freundlichen Dienern und vielleicht einer Hebamme, falls es am Hof des Khans so etwas gab, und dann…
Jie und Ji Ji, dachte Beatrice. Ein gewaltsamer Tod. Das steht dir bevor. Denke gar nicht erst an einen glücklichen Ausgang dieses Abenteuers, dann kannst du nur positiv überrascht werden.
Beatrice war so in ihren düsteren Gedanken versunken, dass sie fast an Tolui vorbeigeritten wäre, der am Fuße des
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