Das Rätsel der Fatima
eine Schar aufgeregter Hühner und waren am Ende so atemlos, dass andere Diener ihnen Luft zufächeln mussten.
»Sei gegrüßt, Dschinkim, Bruder des großen Khans und geschätzter Freund«, sagte Maffeo und verbeugte sich, wie es das Protokoll vorschrieb. »Was führt dich zu mir in mein bescheidenes Heim?«
Dies war natürlich nicht mehr als eine höfliche Floskel. Er kannte den Grund für Dschinkims Besuch. Außerdem waren sie Freunde, die eigentlich die steifen Formeln des kaiserlichen Protokolls nicht nötig hatten. Andererseits war Dschinkim der Thronfolger, der Bruder des Khans. Sollte Khubilai jemals etwas zustoßen, würde Dschinkim der neue Khan werden und somit Herrscher über Leben und Tod seiner Untertanen. Diese Begrüßungsformel half Maffeo, das nie zu vergessen.
Dschinkim antwortete nicht. Mit zornig gerunzelter Stirn starrte er den Diener an, der umständlich die Decken auf dem Bett der Fremden glatt strich, lautstark mit einem Schürhaken im Kohlenbecken herumstocherte und ein paar Schalen auf einem niedrigen Tisch zurechtrückte.
»Ich traue diesen Chinesen nicht!«, sagte er schließlich, nachdem der Diener endlich das Gemach verlassen und die Tür hinter sich geschlossen hatte. »Weshalb verbergen sie ihre Hände stets in ihren Ärmeln?«
Maffeo zuckte mit den Schultern. »Das ist wohl so Brauch bei ihnen. Ein Zeichen von Anstand und Bescheidenheit.«
»Anstand und Bescheidenheit!« Dschinkim schüttelte den Kopf, und zwischen seinen Augenbrauen bildeten sich zornige Falten. »Was für ein Brauch soll das sein? Vermutlich ist das nur eine Ausrede, weil wir ihre Sitten und Gebräuche nicht kennen. Dieser ›Brauch‹ ist bestens geeignet, um ein Blasrohr mit vergifteten Pfeilen oder ein giftiges Pulver für einen hinterhältigen Meuchelmord zu verstecken.«
Maffeo lächelte. »Ich denke, du tust den Chinesen unrecht, Dschinkim.«
»Wirklich? Lass dich von ihrem stets lächelnden Gesicht nicht täuschen, Maffeo. Die Chinesen hassen uns mit jeder Faser ihres Herzens. Sie sind wie die Spinnen. Sie tun alles, um als eifrige Untertanen zu erscheinen, wochen-, sogar jahrelang, wenn es sein muss. Sie wiegen uns in Sicherheit. Aber in Wirklichkeit umgarnen sie uns und warten nur auf die richtige Gelegenheit, uns mit ihrem Biss zu lähmen und anschließend bei lebendigem Leib zu verspeisen.« Er ballte die Hände zu Fäusten. »Es vergeht kaum ein Tag, an dem ich nicht versuche, Khubilai davon zu überzeugen, die Chinesen aus dem Palast oder wenigstens aus seiner unmittelbaren Nähe zu entfernen. Sie hören und sehen zu viel. Und in diesem komischen Singsang, den kein vernünftiger Mensch je verstehen wird, können sie ihre Geheimnisse untereinander weitergeben, ohne dass jemand Verdacht schöpft. Oder verstehst du ihr Geplapper, wenn sie gemeinsam am Brunnen stehen? Doch mein Bruder lacht mich nur aus. Er sagt, dass er den Chinesen das Gefühl geben will, gleichberechtigte Untertanen in seinem Reich zu sein. Aber glaube mir, wenn es den Chinesen gelungen wäre, uns zu erobern, wären sie nicht so zimperlich mit uns. Mongolen und Chinesen sind so unterschiedlich wie Tag und Nacht, wie Sommer und Winter, wie Erde und Himmel. Khubilai ist ein Narr, wenn er denkt, dass wir uns jemals zu einem Volk vereinen könnten.«
Maffeo lächelte versonnen. »Und doch können Tag und Nacht, Sommer und Winter, Erde und Himmel nicht ohne einander sein. Sie sind ein Teil des Ganzen. Ich halte Khubilai Khan für einen großen Mann. Er ist ein Träumer, und seine Visionen…«
»Träumer oder Narr«, unterbrach Dschinkim Maffeo. »Du kannst es nennen, wie du willst, ich sehe da keinen Unterschied.«
Maffeo seufzte. So weltoffen und tolerant Khubilai Khan war, so verschlossen und misstrauisch war Dschinkim, sein jüngerer Bruder. Überall vermutete er Verrat und Verschwörung. Es gab Tage, an denen Maffeo sich wunderte, weshalb Dschinkim ausgerechnet zu ihm Vertrauen gefasst hatte. War sein Gesicht ehrlicher, offener, treuer als das der anderen ungezählten chinesischen, arabischen, jüdischen und europäischen Männer, die im Dienste des großen Khans standen? Wohl kaum. Trotzdem waren sie Freunde geworden. War es Zufall, Schicksal oder Vorsehung? Wer konnte diese Frage schon beantworten.
»Was führt dich zu mir?«, fragte Maffeo noch einmal, um das Gespräch wieder in andere Bahnen zu lenken. Dschinkim konnte sich sehr über die Vielzahl der ausländischen Würdenträger, ihre Rolle am Hof und die Einstellung
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