Das Rätsel der Fatima
verschwand für einen Augenblick in einer Dampfwolke. Plötzlich merkte Beatrice, wie hungrig sie war. Kein Wunder, da sie gestern Abend nichts mehr gegessen hatte. Gespannt warf sie einen Blick in die Schalen. Die größte war gefüllt mit Reis. In der mittleren Schale befand sich etwas, das gekochtem Gemüse ähnelte. Und die klare, leicht grünliche Flüssigkeit in der kleinsten Schale war offenbar Tee. Die alte Frau reichte Beatrice die Schale mit Reis und ein paar Stäbchen. Dann bot sie ihr das Gemüse an.
Reis zum Frühstück?, wunderte sich Beatrice. Ungewöhnlich, aber lecker.
Sie gehörte ohnehin zu den Menschen, die ein herzhaftes Frühstück bevorzugten und morgens sogar Chili con Carne essen konnten. Und diese Mahlzeit war ganz nach ihrem Geschmack. Der Reis war von guter Qualität, und das Gemüse, eine Mischung aus Pilzen, Sprossen, Bambus und einem kohlähnlichen Blattgewächs, schmeckte ausgezeichnet. Gewürze wie Koriander, Ingwer und ein Hauch von Zimt kombiniert mit einer überraschenden Schärfe kitzelten den Gaumen und weckten auf, was zu dieser frühen Morgenstunde an Lebensgeistern noch schlief. Die wunderschönen, ebenfalls schlichten, aus dunklem Holz gefertigten und mit silbernen Kappen verzierten Stäbchen bereiteten Beatrice beim Essen keine Probleme. Während der Zeit, als sie mit Markus zusammen gewesen war, hatten sie oft in erstklassigen chinesischen und japanischen Restaurants gegessen, sodass sie mit Stäbchen ebenso gut umgehen konnte wie mit Messer und Gabel.
So hat doch alles im Leben einen Sinn, sogar ein Markus Weber, dachte sie und langte kräftig zu.
Die alte Frau reichte ihr immer wieder die Schale mit dem Gemüse und hielt ihr den Tee an die Lippen, sodass sie trinken konnte, ohne die Stäbchen aus der Hand legen zu müssen. Sie tupfte ihr anschließend sogar den Mund mit einem Tuch ab. Beatrice wunderte sich ein wenig darüber. Sie war nichts weiter als eine namenlose Fremde, der Gast eines Gastes am Hof des großen Khans. Wenn bereits sie derart zuvorkommend bedient wurde, wie behandelte man dann Khubilai Khan selbst? Durfte der Kaiser überhaupt noch allein essen, oder wurde er sogar gefüttert?
»Wie ist dein Name?«, fragte Beatrice, als sie satt und die alte Frau gerade damit beschäftigt war, ihre Teetasse wieder zu füllen.
Diese warf ihr einen überraschten, beinahe verächtlichen Blick zu.
O weh, dachte Beatrice, das hätte ich wohl lieber nicht fragen sollen.
»Ich komme von weit her«, sagte sie und versuchte sich aus dem Fettnapf wieder herauszuarbeiten, in den sie offensichtlich getreten war. »In meiner Heimat ist es üblich, sich einander mit Namen anzusprechen. Ich heiße Beatrice. Beatrice Helmer. Und du?«
»Ming«, antwortete die alte Frau, ohne Beatrice anzusehen.
»Nur Ming?«
»Ja. Reicht.«
Hastig stellte die alte Frau die Teetasse wieder auf das Tablett und verbarg ihre Hände in den weiten Ärmeln ihres Hemds. Sie wirkte stolz. Stolz, verschlossen und trotzig. Und jetzt, da das Lächeln von ihrem Gesicht verschwunden war, erkannte Beatrice, was sie von Anfang an gestört hatte. Ihre Freundlichkeit war nicht echt. Das Lächeln, so mütterlich es auch gewesen sein mochte, war nichts als eine Maske, welche sie aufgesetzt hatte. Zu keiner Zeit hatte es ihre Augen erreicht.
»Darf ich dich Ming nennen?«
Die Alte nickte so kurz und knapp, dass es Beatrice fast entgangen wäre.
»Maffeo Polo sagt, er kommt, wenn Sonne aufgegangen ist«, erklärte Ming. Beatrice registrierte, dass ihre Stimme hart und abweisend war. Die alte Chinesin presste die Lippen zusammen, und zwischen ihren Augenbrauen hatte sich eine steile Falte gebildet. Offensichtlich war Beatrice es nicht wert, die Maske der freundlichen Dienerin weiterhin aufrechtzuerhalten. »Du musst schnell sein. Für Frau aus ehrbarer Familie schickt es sich nicht, Maffeo Polo im Bett zu empfangen.« Mit fast militärischer Strenge schlug die Alte die Decken zurück und half Beatrice beim Aufstehen.
Erst als sie direkt neben ihr stand, fiel ihr auf, wie klein die Chinesin war. Ming reichte Beatrice nicht einmal bis zum Kinn. Flink trug die alte Frau eine große Tonschüssel herbei und einen riesigen Krug, der mindestens zehn Kilo wiegen mochte. Doch ohne mit der Wimper zu zucken oder zu stöhnen hob die kleine zierliche Person den Krug hoch und goss heißes Wasser in die Schüssel. Dann half sie Beatrice beim Entkleiden und begann, sie mit einem Schwamm zu waschen – schnell, routiniert
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