Das Rätsel der Fatima
Gesicht war starr und unbeweglich, als wäre es aus Stein gemeißelt. Nur ein nervöses Zucken des linken Auges verriet die Anspannung, unter der er zurzeit stand. Beatrice wusste nicht, was sie sagen oder tun sollte, und so schwieg sie auch.
»Im Jahr des Herrn eintausend«, Maffeo wiederholte die Zahl langsam, fast ehrfurchtsvoll, »neunhundert«, wieder hielt er kurz inne, »neunundsechzig.« Er schüttelte fassungslos den Kopf. »Damit habe ich nicht gerechnet.« Er seufzte. »Dabei habe ich es gewusst, wenn ich ehrlich bin. Ich habe es in dem Augenblick gewusst, als ich den Stein in deiner Hand gesehen habe. Ich habe gewusst, dass du nicht nur aus einem anderen Teil dieses Reiches oder einem anderen Land stammst, sondern dass du, nun ja… vielleicht aus zukünftiger Zeit…« Er holte tief Luft. »Aber darauf war ich nicht vorbereitet. Das sind ja beinahe sechshundert Jahre!«
Beatrice war erleichtert. Offensichtlich ging es Maffeo wieder besser, die Krise war überstanden. Sein Puls hatte sich beruhigt, und sein Gesicht nahm allmählich wieder eine normale Färbung an.
»Es tut mir leid, Maffeo. Vielleicht hätte ich versuchen sollen, es dir schonender zu erzählen. Ich…« sie brach ab, als ihr plötzlich die Bedeutung von Maffeos Worten klar wurde. Sie dachte an Mirwat, die Lieblingsfrau des Emirs von Buchara. Sie erinnerte sich daran, wie sie versucht hatte, Mirwat zu erklären, dass sie aus der Zukunft stammte. Die junge Frau war hysterisch geworden. Sie hatte sie angeschrien und sie eine Lügnerin und Hexe genannt – sicher eine ganz normale Reaktion auf eine derart ungewöhnliche, abwegige Behauptung. Doch warum reagierte Maffeo nicht genauso? Hatte er nicht sogar gesagt, er habe damit gerechnet? Beatrice runzelte die Stirn. »Wieso… Du bist gar nicht überrascht?«
»Nein.«
»Aber…«
»Ich denke, nun bin ich an der Reihe, dir etwas zu erklären«, sagte Maffeo, und ein verlegenes Lächeln huschte über sein Gesicht. »Als wir dich fanden und ich den Stein der Fatima in deiner Hand sah, wollte ich eigentlich meinem Bruder Niccolo zustimmen. Ich dachte, du bist eine Frau aus dem Gefolge des großen Khans und geflohen, weil du den Saphir gestohlen hast – meinen Saphir.«
»Deinen Saphir?«, rief Beatrice aus. »Willst du damit etwa sagen…«
Maffeo errötete. »Verzeih, dass ich dir so eine Tat zugetraut habe, wenn auch nur für einen Augenblick. Doch sobald ich dir den Stein aus der Hand nahm, wusste ich, dass ich mich getäuscht hatte. Es war ein anderer Saphir, auch wenn er meinem auf den ersten Blick gleicht wie ein Ei dem anderen. Und das wiederum ließ nur einen Schluss zu. Du bist ebenfalls ein Hüter. Deshalb habe ich vermutet, dass der Stein der Fatima dich aus einer anderen Zeit zu uns geschickt hat.«
»Bedeutet das etwa, dass du auch diese…«, sie schluckte, »… diese seltsamen Erlebnisse…«
Maffeo sah Beatrice an. In diesem Blick lagen Wissen und Erfahrungen, die über ein normales Menschenleben weit hinausgingen. Sie kannte die Antwort, noch bevor er den Mund aufmachte.
»Ja, auch ich habe die Macht und die Weisheit des Steins am eigenen Leibe erfahren dürfen.«
Für einen Augenblick wusste Beatrice nicht, was sie sagen sollte. Tausende von Gedanken wirbelten in einem heillosen Durcheinander in ihrem Kopf herum, und sie war nicht in der Lage, sie zu ordnen. Doch plötzlich, irgendwo in diesem Chaos, begann ein Licht zu leuchten. Ein warmes, freundliches Licht, um das sich wie von selbst alle Gedanken, alle Fragen und Antworten gruppierten, sodass sich wieder ein klares Bild ergab. In ihrer Vorstellung hatte dieses Bild die Form eines Auges.
»Es gibt also tatsächlich mehr als einen«, sagte sie. Schauer liefen ihr über den Rücken. »Bisher habe ich gedacht, das sind alles nur Legenden.«
Maffeo nickte. »Ich kann dich verstehen. Auch ich habe bisher nicht daran geglaubt. Wenigstens nicht ernsthaft.«
»Aber dann…« Beatrice dachte kurz nach. »Kannst du mir deinen Stein zeigen? Wenn es sich tatsächlich um Teile des Auges handelt, so müssten die beiden doch eigentlich zusammenpassen.«
»Das ist fraglich, denn niemand weiß, wie viele Teile vom Auge der Fatima existieren. Es könnten Hunderte sein«, wandte Maffeo ein. »Außerdem befindet sich mein Stein nicht mehr hier im Palast. Bereits vor einiger Zeit habe ich ihn in ein sicheres Versteck gebracht. Weshalb, das ist eine lange, unerfreuliche Geschichte. Wie du weißt, kann der Stein der Fatima viel
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