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Das Rätsel der Fatima

Das Rätsel der Fatima

Titel: Das Rätsel der Fatima Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Franziska Wulf
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und ohne jegliche Begeisterung oder Hingabe, wie jene Krankenschwestern, die ihren Beruf nur als Job ansahen und bei ihren Patienten nicht besonders beliebt waren. Erst als Ming am Bauch angelangt war, milderte sich die Strenge ihrer Gesichtszüge wieder, und die Falte zwischen den Augenbrauen verschwand. Beatrice spürte deutlich die Bewegungen des Kindes, das in ihrem Leib fröhlich Purzelbäume schlug. Und Ming schien es ebenfalls zu bemerken.
    »Kleiner Tiger ist auch wach«, sagte sie und lächelte. Und diesmal veränderten sich auch ihre Augen und strahlten warm und verständnisvoll. Dann murmelte sie etwas auf Chinesisch. Natürlich verstand Beatrice gar nichts, aber es klang freundlich. Vielleicht war jetzt der richtige Zeitpunkt gekommen, um sich mit der Alten zu versöhnen.
    »Verzeih mir, falls ich dich gekränkt haben sollte«, sagte sie. »Das war nicht meine Absicht. Die Sitten in diesem Land sind mir noch nicht vertraut. Ich bitte dich, Geduld mit mir zu haben.«
    »Ich habe Geduld«, erwiderte Ming. Sie holte Kleidung aus einem Korb und breitete sie ordentlich auf dem Bett aus. Ob der Zeitplan, bis Maffeo eintreffen würde, tatsächlich so eng war, oder ob die Alte lediglich ihrem Blick ausweichen wollte, konnte Beatrice nicht sagen. »Viel Geduld. Ich hoffe, Hose wird passen.«
    Sie hielt Beatrice das Kleidungsstück hin, sodass sie nur noch in die Hosenbeine steigen musste. In diesem Moment trafen sich ihre Blicke, und Beatrice verstand. Die dunklen Augen der alten Chinesin erzählten eine Geschichte von Trauer, Demütigung und Entbehrung.
    Und dann fiel Beatrice plötzlich ein, was sie noch aus ihrem Geschichtsunterricht wusste. Khubilai Khan war Mongole gewesen, ein Tyrann, kriegerisch und unersättlich in seinem Streben nach Macht und Besitz. Immer neue Kriegszüge und Gewalt hatten sein riesiges Reich geformt und zusammengehalten. Die Chinesen in den eroberten Provinzen waren nichts anderes als Kriegsgefangene oder Beute – und wurden auch als solche behandelt. Sie waren eine besiegte und sicherlich auch unterdrückte Nation, ein kulturell hoch entwickeltes Volk, das Poesie, Kunst und so etwas Herrliches wie diese Porzellanschalen geschaffen hatte und sich jetzt von wilden, nomadisierenden und weitgehend ungebildeten Hirten regieren lassen musste.
    Ming war bestimmt nicht als Dienerin geboren worden. Ihre aufrechte Haltung sprach von dem Stolz und der Selbstachtung einer Frau aus gutem Hause. Wer konnte schon sagen, welche Geschichte sich hinter ihrem Familiennamen verbarg. Vielleicht war er das Einzige, was ihr noch von ihrem alten Leben geblieben war, das Einzige, was die Mongolen ihr nicht hatten nehmen können, der letzte Rest ihrer Würde. Kein Wunder, dass sie diesen Namen nicht preisgeben wollte. Man hatte sie dazu gezwungen, den Mongolen zu dienen. Man hatte sie sogar gezwungen, eine fremde Sprache wie Arabisch zu lernen. Beatrice versuchte, sich vorzustellen, was sie in einer solchen Situation getan hätte. Ihr Aufenthalt im Harem des Emirs von Buchara war vielleicht mit dem zu vergleichen, was Ming durchmachte. Sie selbst war damals fast verrückt geworden und hatte nichts als Abscheu und Hass für den Emir empfinden können.
    Ich verstehe deinen Zorn, dachte Beatrice. Ja, ich verstehe ihn gut.
    Die alte Frau senkte hastig ihren Blick und half Beatrice beim Anziehen. Bis sie damit fertig waren, sprach keine von ihnen ein Wort.
    Beatrice betrachtete sich in einem Spiegel. Sie trug einen chinesischen Anzug aus Seide mit Blumenstickerei am Kragen und darüber eine farbenfrohe gefütterte Weste. Ihr Haar hatte Ming zu einem Knoten geschlungen und mit Haarnadeln und Kämmen aus Horn und Perlmutt festgesteckt. Wäre ihr Haar nicht blond gewesen, man hätte sie ohne Weiteres für eine Asiatin halten können.
    War das da im Spiegel wirklich sie, Beatrice Helmer? Diese Frau, die sich so kühl und gleichgültig betrachten konnte, obwohl sie sich in einer anderen Kultur, sogar in einem anderen Zeitalter aufhielt? So kühl und gleichgültig, als wäre es das Normalste von der Welt, als könnte man Zeitsprünge wie Urlaub planen und im Reisebüro buchen?
    Merkwürdig, dachte Beatrice, ich zweifle nicht einen Augenblick daran, dass dies hier alles wirklich passiert.
    In Buchara, als der Stein sie vor etwa sechs Monaten zum ersten Mal auf diese ungewöhnliche Reise geschickt hatte, war sie anfangs in tiefe Depressionen gefallen. Sie hatte sich immer wieder gesagt, dass ihre Umgebung – die Frauen

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