Das Rätsel der Fatima
es je gewagt, ohne seine Erlaubnis abzuwarten, seine Gemächer zu betreten. War es ein Freund oder Khubilai selbst? Möglich. Doch ein Freund hätte ihn sofort begrüßt, und Khubilai… Sein Bruder war schon seit vielen Jahren kein Jäger mehr. Er hatte es verlernt, sich lautlos zu bewegen. Also blieb nur noch eine Möglichkeit, unerfreulich, aber nicht unerwartet. Es musste ein Feind sein.
Es näherten sich jedoch keine Schritte. Wer auch immer der geheimnisvolle Eindringling sein mochte, er stand regungslos da. Worauf wartete er? Dschinkim spürte, wie sein Herzschlag sich allmählich beschleunigte. Es gab nicht viel, wovor er sich fürchtete. Drachen und Dämonen gehörten dazu, aber selbst diesen entsetzlichen Kreaturen würde er beherzt entgegentreten, wenn das Schicksal ihm keine andere Wahl ließe. Wovor er sich jedoch am meisten fürchtete, waren Bosheit und Heimtücke. So wie gerade jetzt, mit dem Rücken zu einem unsichtbaren, unerkannten Feind zu stehen, der ein Blasrohr mit einem vergifteten Pfeil lud und nur darauf lauerte – reglos, still und geduldig, wie eine Spinne in ihrem Netz –, dass er sich eine Blöße geben und mit einer unbedachten Bewegung seinen Nacken freilegen würde. Um ihn dann, noch bevor er überhaupt die Chance hatte, die Hand zur Gegenwehr zu erheben, mit einem winzigen Dorn, kaum größer als dem Stachel einer Biene, zu töten. Doch die Vorstellung, gemeuchelt zu werden, ohne seinem Gegner ins Auge geblickt zu haben, erfüllte ihn plötzlich mit Zorn.
So nicht, Elender!, dachte er. Wenn du glaubst, du könntest mich einfach ermorden, so hast du dich getäuscht. Ich werde dir zuerst den Bauch aufschlitzen. Und wenn es das Letzte sein sollte, was ich in dieser Welt tue.
Dschinkim spannte seine Muskeln an, unmerklich und lautlos wie ein Tiger. Und dann warf er sich zurück, fing den Sturz mit einer Rolle ab, sprang wieder auf die Füße und hielt dem Feind seinen Dolch an die Kehle.
Doch zu seiner großen Überraschung sah er nicht in das Gesicht eines chinesischen Verräters, wie er angenommen hatte, sondern in die weit aufgerissenen blauen Augen einer Frau. Er spürte ihren heftigen Atem, ihr schwangerer Bauch presste sich gegen seine Hüfte, sodass er deutlich die Bewegungen des ungeborenen Kindes spüren konnte. Es war jene Frau aus dem Norden des Abendlandes, die er und Maffeo mitten in der Steppe gefunden hatten. Dieser unerwartete Anblick irritierte ihn derart, dass er entgegen alle Vernunft seinen Dolch sinken ließ.
»Was willst du hier?«, fragte er.
Die Frau starrte ihn an, als wäre er ein Geist. Sie schien tatsächlich ihre Sprache verloren zu haben und zitterte am ganzen Körper. Trotzdem regte sich ein schrecklicher Verdacht in ihm.
Ein kluger Mann würde niemals einer Frau vertrauen, noch dazu einer schönen Fremden mit Augen in der Farbe des Himmels und Haaren aus gesponnenem Gold, die wie aus dem Nichts erschienen war. War sie etwa geschickt worden, um ihn zu überlisten?
»Was willst du hier?«, wiederholte er seine Frage, diesmal in barscherem Ton. »Was fällt dir ein, dich hinterhältig an mich heranzuschleichen?«
Um seinen Worten Nachdruck zu verleihen, berührte er erneut mit der Klinge ihren weißen Hals.
»Es tut… Ich wollte mich nicht anschleichen«, stotterte die Frau. »Ich bin spazieren gegangen und habe mich verlaufen.«
»So, so, verlaufen«, sagte Dschinkim. »Und dabei dringst du ausgerechnet in meine Gemächer ein?«
»Ich sagte doch schon, dass es mir leid tut«, entgegnete sie heftig. »Ich konnte doch nicht ahnen, dass…«
Sie schluchzte nicht, und sie flehte ihn nicht an. Vermutlich hätte ihn das auch nicht gestört. Aber da war etwas in ihren Augen, das ihn anrührte. Er wusste plötzlich, dass er sie, was auch immer sie getan hatte, nicht töten wollte.
»Du hättest in Maffeos Gemächern bleiben sollen«, sagte Dschinkim und steckte seinen Dolch wieder in den Gürtel.
Von dieser Frau ging keine Gefahr aus. Tränen ließen sich vortäuschen, Worte konnte man erfinden, aber sie hatte Angst, echte, abgrundtiefe Angst. Er konnte es förmlich riechen.
»Du hättest dir viel Ärger ersparen können. Ich lasse dich zurückbringen.« Er schüttelte den Kopf. »Eine Frau sollte sich niemals ohne Begleitung im Palast bewegen. Wärst du einem Chinesen oder gar Araber in die Hände gefallen, wer weiß, was mit dir geschehen wäre.« Er berührte kurz ihre Wange. »Hör auf meinen Rat, und bleib in Zukunft in deinen
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