Das Rätsel der Fatima
weiter, langsam und bedächtig. Sie hatte keine Eile.
Beatrice bewunderte die reich verzierten Schränke, die Kommoden mit Dutzenden kleiner Schubladen und die schweren eisenbeschlagenen Truhen, die überall an den Wänden des Gangs standen. Sie hielt immer wieder inne und berührte vorsichtig die kunstvollen Einlegearbeiten aus Gold und Elfenbein, die exotische Blumen und Fabelwesen aus der chinesischen Mythologie darstellten. Sie fragte sich, ob die kostbaren Möbelstücke wohl das ganze Jahr über hier auf dem Gang stehen blieben. Wie hielten diese empfindlichen Kostbarkeiten Kälte, Hitze, Feuchtigkeit und Trockenheit aus, ohne dass das Holz aufquoll und die Intarsien ihre Schönheit einbüßten? Oder wurden sie einfach jedes Jahr durch neue Möbel ersetzt? Möglich war es. Denn vermutlich spielte Geld am Hof des Khans keine Rolle. Und wenn die Staatskasse doch mal leer war, zog Khubilai eben mit seinen Soldaten los und raubte sich, was sein Herz begehrte.
Als Beatrice etwa die Hälfte des Innenhofs umrundet hatte, kam sie zu einem Tor. Durch die weit geöffneten Flügel konnte sie einen riesigen Platz und weitere, größere Gebäude mit Kuppeln und Türmen sehen. Sie schaute sich um. Da sich immer noch niemand um sie zu kümmern schien, fasste sie sich ein Herz und spazierte geradewegs durch das Tor hindurch.
Die plötzliche Kälte überraschte Beatrice und trieb sie beinahe wieder in den geschützten Innenhof zurück. Hier auf dem großen Platz gab es nichts, was den eisigen Wind aufhielt. Er zerrte an ihrer Kleidung und ihren Haaren und ließ sie frösteln. Schwer beladen mit Körben und Krügen, liefen die Diener und Dienerinnen über den Platz, als könnten sie es kaum erwarten, wieder in den Schutz eines der warmen Häuser zu gelangen. Nur den kriegerisch aussehenden Männern, die mit blitzenden Rüstungen und Waffen stolz auf ihren bunt geschmückten Pferden saßen, wichen sie aus, oft erst in letzter Sekunde. Mancher Diener musste sogar einen Tritt oder einen Schlag mit der Peitsche hinnehmen, wenn er nicht schnell genug zur Seite gesprungen war.
Es ist doch überall das Gleiche, dachte Beatrice und erinnerte sich daran, wie in Buchara die Diener und Sklaven behandelt worden waren. Auch dort waren Schläge an der Tagesordnung gewesen.
Sie überquerte den Platz, ohne dass jemand sie beachtete. Und da sie nicht genau wusste, wohin sie eigentlich gehen sollte, wandte sie sich dem Gebäude zu, das zu ihrer Rechten lag. Auch hier stand das Tor weit offen. Beatrice sah sich nach links und rechts um, ob es jemanden gab, der sie zurückhalten wollte. Da aber offenbar niemand Anstoß nahm, trat sie durch das Tor.
Wie es schien, war sie in einer Kaserne gelandet, denn in dem großen, zu allen Seiten hin offenen Innenhof stand etwa ein Dutzend Männer einander gegenüber. Sie trugen kleine runde Schilde und hieben mit hölzernen Schwertern und Krummsäbeln aufeinander ein. Und etwas entfernt von ihnen schossen zwei Männer mit Pfeilen und Bogen auf eine Strohpuppe. Auf einem Podest saß ein Mann. Er sah streng und grimmig aus, hatte lange graue Haare und einen wirren grauen Schnurrbart. Vermutlich war er der Ausbilder, denn von seinem erhöhten Platz aus beobachtete er alles ganz genau. Ohne dass Beatrice ihn je zuvor gesehen hatte, wusste sie, dass den Augen dieses Mannes nicht die kleinste Bewegung oder der geringste Fehler der Soldaten entging. Seine tiefe, raue Stimme dröhnte über die Köpfe und Schreie der Männer hinweg. Und was er den schwitzenden Soldaten zubrüllte, klang mehr nach Kritik als nach Lob.
Langsam schlenderte Beatrice den Gang an den Säulen entlang und beobachtete die Soldaten bei ihren schweißtreibenden Übungen. Plötzlich blieb sie stehen. Direkt vor ihr gingen zwei Männer. Der Kleidung nach waren es ein Mongole und ein Araber. Die beiden gingen so langsam, dass selbst Beatrice in ihrem gemächlichen Schneckentempo sie leicht hätte überholen können. Sie wollte gerade ihre Schritte beschleunigen, um rasch an ihnen vorüberzugehen, als sie feststellte, dass einer der beiden Männer Arabisch sprach, und zwar nicht irgendeinen Dialekt, sondern den der Einwohner von Buchara. Eigentlich war es nicht ihre Art, zu lauschen, aber der unerwartete, vertraute Klang dieser Sprache und der Anblick des Mannes, der wie ein vornehmer arabischer Kaufmann gekleidet war, übte auf sie eine unwiderstehliche Anziehungskraft aus. So ähnlich musste es den Hamelner Ratten ergangen sein, nachdem der
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