Das Rätsel der Fatima
hätte sie Ming in den Festen ihrer Überheblichkeit erschüttert, aber ihr fiel nichts ein – kein Spruch von Konfuzius oder Buddha, kein geeignetes Sprichwort, nichts, was zu dieser Situation passen könnte. So schwieg sie und genoss den einzigen Vorteil, den sie zurzeit gegenüber der alten Chinesin hatte – sie war es, die Ming Befehle erteilen konnte. Ob die Alte merkte, dass Beatrice sich insgeheim für diese niederen Gefühle schämte, blieb offen.
Die Stunden zogen sich unerträglich hin, sodass sie ihr vorkamen wie Tage oder Wochen. Sie war ein Mensch des 20. und 21. Jahrhunderts, gewöhnt an die Errungenschaften der Technik, an Medien und Entertainment. Oft hatte sie bedauert, dass ihre Arbeit ihr viel zu wenig Zeit zum Lesen oder fürs Kino ließ. Hier hatte sie zwar die Zeit, allerdings gab es kein Fernsehen, kein Kino, kein Radio, keine Bücher, nicht einmal einen vernünftigen Gesprächspartner. Ihre Langeweile ging so weit, dass sie sich sogar nach ihrem sonst ungeliebten Bügelbrett sehnte, nur um endlich etwas tun zu können. Oft stand sie am Fenster, blickte hinaus und wünschte sich, anstatt des kaiserlichen Palastes in Shangdou die vertrauten Kuppeln und Dächer der Häuser und Moscheen von Buchara vor sich zu sehen. Dann schloss sie die Augen und stellte sich vor, dass sie dort war, in Buchara. Ali kam herein. Der vertraute, warme Geruch von Kräutern umwehte ihn. Er legte ihr seine Hände auf die Schultern und küsste ihren Nacken, flüsterte liebevolle Worte in ihr Ohr… Mehr als einmal musste sie sich die Tränen von den Wangen wischen. Es war immer noch schwer für sie zu begreifen, dass Ali al-Hussein tot war – seit langer, seit sehr langer Zeit. Er hatte nicht einmal erfahren, dass sie ein Kind von ihm erwartete. Die Wehen setzten wieder ein, aber nicht so oft und so heftig wie im Krankenhaus. Außerdem hatte sie keine Schmerzen dabei; eigentlich spürte Beatrice nur, dass ihr Bauch in regelmäßigen Abständen hart wie ein Brett wurde. Dennoch war es kein gutes Zeichen. Sie befand sich im Mittelalter. Es gab hier mehr als eine Myriade gefährlicher Bakterien und Mikroben, die überall herumschwirrten – in der Luft, im Wasser, auf jedem Gegenstand und jedem Stoff, den sie berührte. Hier, in Shangdou, irgendwann im 13. Jahrhundert, waren Pest und Lepra mehr als nur ein paar Seiten in einem Lehrbuch, das man zum Staatsexamen auswendig lernte. Diese Seuchen waren eine reale Bedrohung. Und wer konnte schon sagen, welche schrecklichen, von der modernen Medizin längst ausgerotteten und vergessenen Krankheiten es hier außerdem noch gab. Eine grässliche Vorstellung ohne die Hilfe von schützenden Desinfektionsmitteln oder heilenden Antibiotika. In dieser Umgebung waren die Überlebenschancen eines zu früh geborenen Kindes gleich null.
Beatrice lief im Zimmer auf und ab, gefangen in ihrer eigenen, düsteren Fantasie. Immer entsetzlichere Bilder tauchten aus den Tiefen ihres Unterbewusstseins auf. Augenrollende, schwertschwingende Mongolen fielen über sie her, schlitzten ihr den Bauch auf oder ließen sie von Pferdehufen zertrampeln, nur weil sie ihre Schale Reis nicht leer gegessen oder ein anderes, ähnlich belangloses Vergehen begangen hatte. Diese Bilder ängstigten sie, nahmen ihr den Atem und beschleunigten ihren Herzschlag.
Du bildest dir das alles nur ein, ermahnte sie sich immer wieder selbst. Du verarbeitest auf diese Weise nur ein Kindheitstrauma oder deine Beziehung zu Vater und Mutter oder wie auch immer der gute alte Sigmund Freud das erklären würde.
Aber konnte sie es so genau wissen?
Dann, als Beatrice schon fast am Verzweifeln war und befürchtete, sie würde wieder in eine tiefe Depression versinken so wie damals in Buchara, kam Maffeo endlich. Diesmal war er in Begleitung von Li Mu Bai.
Der chinesische Arzt fühlte ihr wieder den Puls und stach ihr dann Akupunkturnadeln ins Handgelenk. Es waren nur zwei, aber die hatten es in sich. Die beiden Nadeln waren nicht mit denen zu vergleichen, die ein Pfleger, der neben seinem Job im Krankenhaus eine Ausbildung zum Heilpraktiker machte, ihnen auf der Notaufnahme gezeigt hatte – hauchdünne silberne Nadeln, die sich schon fast beim Hinsehen verbogen. Jene Nadeln, die Li Mu Bai benutzte, waren aus Gold, waren dick und waren stumpf. Obwohl Li Mu Bai sie vor ihren Augen noch einmal mit einem Schleifstein bearbeitete, hatte Beatrice den Eindruck, er rammte ihr Nägel in das Handgelenk. Zudem waren sie gewiss nicht
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