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Das Rätsel der Fatima

Das Rätsel der Fatima

Titel: Das Rätsel der Fatima Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Franziska Wulf
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Wolken sein tollkühnes Spiel trieb und sie wie eine wilde Herde über den Himmel jagte, weichte der Regen die Erde auf. Die Pferde versanken dann knöcheltief im Schlamm, der in rotbraunen Krusten in ihrem Fell trocknete. Jeder, der es sich leisten konnte, ließ sich von Dienern über den Platz tragen. Jetzt, kurz vor Einbruch des Winters, war der Platz weitgehend verlassen. Er war ein unwirtlicher, zugiger Ort, den man so schnell wie möglich überquerte, um wieder in die schützende Wärme eines Hauses zu gelangen. Trotzdem war er schön. Zu jeder Zeit im Jahr. Wie die Steppe.
    Nicht mehr lange, dachte Dschinkim, dann wird der Platz des Himmels weiß sein, und die Pferde werden knietief in den Schneeverwehungen versinken – zum letzten Mal.
    Shangdou mit seinen Plätzen und Gärten, dem Park, in dem die herrlichen Schimmelstuten des Kaisers umherliefen, und den runden, an Jurten erinnernden Häusern aus Stein würde schon bald verlassen sein. Schon bald würden die Karawanen aufbrechen, beladen mit Möbeln, dem Hausrat des kaiserlichen Hofs und all jenen Schriftstücken, die nicht zurückgelassen werden durften. Es war so weit. Die Regierungsgeschäfte sollten nun endgültig nach Taitu verlegt werden. Die Baumaßnahmen waren beendet, nach fast zwanzig Jahren Bauzeit war die »Große Stadt« fertig. Ein Bote hatte ihm an diesem Morgen die Nachricht überreicht. Und obgleich er Khubilais Pläne schon lange kannte, Taitu bereits seit vielen Jahren offizielle Hauptstadt des Reiches war und er jederzeit mit dem endgültigen Umzug gerechnet hatte, hatte ihn diese Neuigkeit doch getroffen. Sie war wie ein Faustschlag ins Gesicht.
    Taitu… Dschinkim war bisher noch nicht selbst dort gewesen, aber er kannte die Modelle der Baumeister. Seit Jahren standen sie in Khubilais Gemächern, und oft hatte er sie betrachtet – die quadratischen Häuser, die mit Steinen gepflasterten Plätze und Höfe, die sprießenden Gräsern und feuchter Erde keine Chance mehr ließen, die Gärten, in denen jeder Grashalm, jeder Baum und jede Blume genau dort wuchsen, wo Menschen sie gepflanzt hatten. Taitu war eine durch und durch chinesische Stadt, geplant von chinesischen Baumeistern, gebaut von chinesischen Arbeitern, bewohnt von chinesischen Händlern, Beamten und Edelleuten. Khubilais Wunsch entsprechend war Taitu die Hauptstadt des mongolischen Reiches geworden, gedacht als ein gewaltiges Symbol der Einheit und der Stärke, das durch den Umzug des ganzen kaiserlichen Hofstaats noch bekräftigt werden sollte. Dschinkim befürchtete allerdings, dass Taitu gerade aus diesem Grund dem chinesischen Widerstand Flügel verleihen würde. Es war eine chinesische Stadt. In ihren eigenen Adern jedoch floss kein Tropfen chinesisches Blut. Sie waren Mongolen. Vielleicht hatte Khubilai das im Laufe seiner Regentschaft und durch seine Bestrebungen, alle Völker, alle Kulturen in seiner Person zu vereinen, vergessen. Aber wenn ein Baum seine Wurzeln durchtrennt, stirbt er. Wie sollte Khubilai die Kraft haben, das Reich zusammenzuhalten, wenn er versuchte, Chinese zu sein? In Dschinkims Augen war Taitu eine Ungeheuerlichkeit, eine manifeste, aus Holz und Stein errichtete Beleidigung der Götter ihrer Ahnen. Und er war nicht allein mit dieser Ansicht. Viele der Alten und fast alle Soldaten waren, sofern sie es überhaupt wagten, darüber zu sprechen, seiner Meinung. Dschinkim hatte seinem Bruder vorgeschlagen, lediglich die Verwaltung nach Taitu zu verlegen, alle anderen Regierungsgeschäfte jedoch weiterhin von Shangdou aus zu führen. Oder besser noch wieder nach Karakorum zu gehen, der Stadt ihres Großvaters Dschingis Khan, dem Zentrum der Kraft der Mongolen. Doch Khubilai ließ sich nicht überzeugen, sooft er auch auf ihn einredete. Unerschütterlich und dickköpfig wie ein Maultier hielt er an seinem Plan fest. Und Khubilai war der Khan. Sein Wort galt, im Guten wie im Schlechten. Dschinkim blieb also nichts anderes übrig, als die Götter auf Knien darum zu bitten, ihre schützende Hand auch weiterhin über Khubilai und das mongolische Volk zu halten.
    Die Tür in seinem Rücken öffnete und schloss sich so leise, dass man es kaum hören konnte, doch Dschinkim entging es trotzdem nicht. Er konnte selbst im wildesten Sturm das Rascheln einer Maus im Gras hören und vom Geräusch des Windes unterscheiden. Dennoch blieb er mit dem Rücken zur Tür stehen und wartete. Wer war in sein Gemach eingedrungen? Ein Diener? Wohl kaum. Keiner von ihnen hätte

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