Das Rätsel der Fatima
waren und nicht noch der eine oder andere verloren und vergessen in den leeren Gängen des Kristallpalastes umherirrte.
Als sie nur wenig später durch das breite Tor von Shangdou ritten, ging gerade die Sonne auf. Sie erhob sich über den Horizont als blutroter Ball und übergoss den Himmel mit Purpur, während über ihren Köpfen noch die Sterne funkelten. Beatrice suchte den Himmel ab, in der Hoffnung, etwas zu entdecken, das sie als gutes Omen werten könnte. Aber das Auge, jenes seltsame und doch so tröstliche Sternbild, war nirgendwo zu sehen.
Der eisig kalte Wind wehte Beatrice ins Gesicht und ließ sie trotz des warmen Fellmantels und der Pelzmütze frösteln.
Ich wusste gar nicht, wie sehr ich das vermisst habe, dachte Beatrice. Sie klopfte der zierlichen Fuchsstute den glatten Hals und atmete mit geschlossenen Augen den Duft des Tiers ein. Sie genoss es, nach langer Zeit wieder einmal auf einem Pferderücken zu sitzen.
Es war ein seltsames, ungewohntes und zugleich vertrautes Gefühl. Früher, während ihrer Schulzeit, war Beatrice leidenschaftliche Reiterin gewesen. Jede freie Minute, jedes Wochenende und einen Großteil der Ferien hatte sie im Pferdestall verbracht. Mittlerweile war ihr letzter Ritt jedoch mindestens sechs Jahre her – eben genauso lang, wie sie als Chirurgin arbeitete. Aber woran lag das? Daran, dass ihr das Reiten keinen Spaß mehr machte, bestimmt nicht, das merkte sie jetzt. Ihre Lebensumstände waren schuld daran. An normalen Arbeitstagen fehlte ihr einfach die Zeit und die Kraft. Und an den freien Tagen und Wochenenden zwischen den Diensten war sie meistens damit beschäftigt, ihren Haushalt wieder auf Vordermann zu bringen, Kontakte zu Freunden zu pflegen oder einfach nur versäumten Schlaf nachzuholen.
»Die Chirurgie ist eine überaus eifersüchtige Geliebte«, hatte ihr ehemaliger Chef anlässlich seiner Pensionierung in seiner Abschiedsrede gesagt. »Sie duldet neben sich keine Konkurrenz.«
Über den Wahrheitsgehalt dieser Worte hatte sie noch nie zuvor nachgedacht, aber es stimmte. Auf die meisten angehenden Mediziner wirkte die Chirurgie abstoßend. Wer sich jedoch auf sie einließ und empfänglich für ihren Zauber war, der bekam ihr wahres Gesicht zu sehen. Den nahm sie in Beschlag, verschlang ihn mit Haut und Haar – und am Ende war man sogar noch dankbar dafür.
Beatrice seufzte, als sie merkte, dass sie sich nach dem OP zurücksehnte, dem Geruch der Desinfektionsmittel, dem Geräusch von Beatmungsmaschine und EKG, dem grellen, blendfreien Licht. Sie wollte endlich wieder operieren. Aber wie sollte das werden, wenn das Kind erst einmal auf der Welt war? Mit Baby würde sie kaum in der Lage sein, so zu arbeiten wie bisher. Doch sollte sie wirklich drei Jahre lang pausieren, sich nur noch um Kind, Windeln, Babyschwimmen und Breikost kümmern? Andererseits, wie sah die Alternative aus? Ihr eigenes Kind morgens kurz vor sieben Uhr in einer Krippe abgeben und den Rest des Tages von den Großeltern erziehen lassen? Halbtagsstellen für Chirurgen gab es im Krankenhaus nicht. Die Möglichkeit, nur Nachtdienste zu machen, vielleicht zwei pro Woche, war auf Druck der Gewerkschaften abgeschafft worden. Natürlich konnte sie versuchen, eine Halbtagsstelle in einer chirurgischen Praxis zu finden. Doch hatte sie wirklich eine harte, lange Ausbildung hinter sich gebracht, um nur noch eingewachsene Zehennägel und Lipome zu operieren? Nein, das konnte nicht ihr Ziel sein. Aber was sollte sie dann tun?
Mach dir doch jetzt keine Gedanken darüber, meldete sich eine innere Stimme. Du lebst jetzt im Mittelalter. Die Probleme des Arbeitsmarkts für eine alleinerziehende Chirurgin existieren hier nicht. Maffeo sprach doch davon, dass der Stein nichts ohne Absicht zulässt. Vielleicht hat er dich hierher gebracht, damit du dir keine Sorgen mehr zu machen brauchst.
Aber, ließ sich da eine andere Stimme vernehmen, Maffeo hat auch gesagt, dass diese »Reisen« selten länger als ein Jahr dauern. Und ein Jahr ist verdammt kurz.
Trotzdem, jetzt bist du erst einmal hier, schaltete sich wieder die erste Stimme ein. Genieße diese Zeit. Und mittlerweile können sich die Verhältnisse bei dir zu Hause zu deinen Gunsten ändern. Man sollte die Hoffnung nie aufgeben.
Das war ein tröstlicher Gedanke, irgendwie ermutigend. Beatrice wollte sich gerade wieder den gleichmäßigen Bewegungen ihres Pferdes überlassen, als sie jäh aufschreckte. Das war also der Grund, weshalb sie sich bisher
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